Annäherung an Paganinis Autograf
Paradestücke virtuoser Geigenmusik in zwei neuen, jeweils auf ihre Weise vorzüglichen Ausgaben.

Die zwei neuen Urtext-Ausgaben von Niccolò Paganinis 24 Capricci op. 1 entlarven viele Abweichungen älterer Ausgaben von den Ricordi-Erstdrucken 1820 und 1836, die auf dem Autograf von 1817 basieren. 1974 gab Ricordi ein Facsimile des Autografs heraus, und auf der Website imslp.org kann es jedermann gratis herunterladen und studieren. Das ist absolut faszinierend, aber die Noten sind schwierig zu lesen; da helfen nun die Urtextausgaben auf verschiedene Weise.
Vor den hier zu besprechenden gaben die Verlage Peters (1986), Ricordi (1988) und Henle (1990) solche heraus. Henle illustriert die Interpretationshinweise und Korrekturen der älteren Ausgaben geschickt mit taktweisen Ausschnitten aus dem Faksimile. Auch Philippe Borer geht in seiner ausführlichen und lesenswerten Dissertation (siehe meine Rezension in der SMZ 4/2001, S. 39) vom Faksimile aus, das er dort vollständig abdruckt. Den Umfang dieser Dissertation könnte ich mit einem Zitat daraus von Jacques Thibaud kurz zusammenfassen: Paganini liess das Ergebnis seiner Studien als Autodidakt kulminieren «in einer Verbindung aller violinistischen Traditionen mit der Moderne».
Bärenreiters Verdienst ist eine drucktechnisch perfekte Objektivität ohne Zusätze. In Capriccio 6 sind die Tremolo-Finger in der Schreibart Paganinis übersichtlich und platzsparend mit ganzen Noten gedruckt – wahlweise zur modernen Art mit 64stel-Balken. Dafür muss man bei vielen Capricci die Seite wenden. Die Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte sowie der kritische Bericht zu allen ersten Quellen und deren Differenzen sind sehr ausführlich. Interessant sind die Metronomangaben zu allen Capricci der französischen Erstausgabe Richault 1824 als Dokument der frühen Interpretationspraxis. Eine hübsche Zugabe sind die zwei Seiten mit den 24 Contradanze Inglesi zu je 16 Takten, ein Erstdruck aus der Paul-Sacher-Stiftung Basel. Sie sind von Paganini für Fastnachtsfeste eines Fürsten geschrieben und wohl improvisierend mit Variationen und weiteren Instrumenten erweitert zum Tanz aufgespielt worden.
Niccolò Paganini, 24 Capricci und 24 Contradanze Inglesi für Violine solo, Urtext hg. von Daniela Macchione, BA 9424, € 16.95, Bärnreiter Kassel, 2013
Mario Hossens Arbeit bei Doblinger konzentriert sich auf absolute Texttreue durch Abgleichung mit Autograf und Ricordi 1820 und auf die Aufführungspraxis mit vielen Anregungen zu lebendiger Artikulation und Dynamik, untermauert mit Zitaten von Johann Joachim Quantz, Leopold Mozart und Leopold Auer. Peinlich ist der sinnstörende Abschreibefehler im englischen Text in der zweiten Zeile der zweiten Seite des Vorwortes: «stuffing» (=stopfend) statt «stifling» (=erstickend). (Philippe Borer hat mich darauf hingewiesen; er hatte dieses Zitat 1997 englisch veröffentlicht und hätte als Quelle angegeben werden müssen!) Wertvoll in den Kommentaren zu jedem Capriccio sind die präzisen Hinweise auf Korrekturen tradierter Fehler und die zwar etwas subjektiven Interpretationsvorschläge. Mit der Anregung, in Capriccio 16 die Sechzehntel mit liegendem Bogen in oberer Hälfte [«à la française», Anm. d. Autors] zu spielen, bin ich gar nicht einverstanden. Karl Guhr schrieb dazu: «Allein Paganini lässt den Bogen mehr eine springende, peitschende Bewegung [also sautillé, Anm. d. Autors] machen, gebraucht hierzu beinahe die Mitte desselben … ». Zudem sollten möglichst alle grossen Sprünge in einer Lage über drei Saiten gespielt werden, damit die mit forte bezeichneten Töne auf die G-Saite zu liegen kommen und so erst ihre Bedeutung erhalten. Die meisten von Hossens Fingersätzen sind brauchbar, aber mit unnötigen Wiederholungen innerhalb einer Lage. Mancherorts würde ich eine Abstreckung in eine benachbarte Lage einem zusätzlichen Lagenwechsel, oder bei Lagenwechseln in Tonleiterläufen eine Abfolge von mehr als zwei Fingern, mit Wechsel bei Halbtönen und gleichem Fingersatz eine Oktave höher vorziehen. Luxuriös sind die fünf aufklappbaren Seiten, die bewirken, dass die Noten nie gedrängt sind, und nur bei zwei vierseitigen Capricci – 4 und 24 – gewendet werden muss. Ein «praktischer Urtext».
Niccolò Paganini, 24 Capricci, Urtext hg. von Mario Hossen, Diletto Musicale, DM 1461, € 18.95, Doblinger, Wien 2013