Geläufigkeitstraining aus dem 19. Jahrhundert

Die 60 Übungen von Charles Louis Hanon sind eine Geläufigkeits-, Unabhängigkeits- und Kräftigungsschule, die nach wie vor hilfreich sein kann.

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Fingerübungen sind im Klavierunterricht schon seit geraumer Zeit eher seltene und bisweilen ungern gesehene Gäste. Dies gilt sogar für das professionelle Studium. Die Folgen sind durchaus darin spürbar, dass elementarste Abläufe wie Tonleitern und Arpeggien nicht auf Anhieb gelingen wollen. Es ist also angebracht, sich darüber ein paar grundlegende Gedanken zu machen.

Nun hat die Edition Schott mit Charles Louis Hanons The Virtuoso Pianist einen Klassiker des 19. Jahrhunderts neu herausgegeben. Die 60 Übungen beinhalten eine Unmenge an Fünffingertraining, Tonleitern, Arpeggien, Oktaven- und Terzengängen und vielem mehr. Zum Abschluss wird dafür einiges versprochen: «Wenn der Schüler diesen ganzen Band durchgearbeitet hat, kennt er die grössten Schwierigkeiten der Technik. Wenn er aber (…) ein echter Virtuose werden will, so muss er während einer gewissen Zeit dieses Buch alle Tage von Anfang bis Ende durchspielen.» Nun, glücklicherweise gibt es ja verschiedene Wege nach Rom …

Selbstverständlich sind einige dieser Übungen zum Aufwärmen ganz nützlich und können bei der Bewältigung einer technischen Aufgabe auch hilfreich sein. Was aus heutiger Sicht sicher anfechtbar bleibt, ist einerseits das sture Festhalten an Unisono-Passagen. Dabei verdecken die stärkeren Finger der einen Hand die schwächeren der anderen derart, dass ein wirklich ausgeglichenes Passagenspiel nicht klar hörbar wird. (Besser also jede Hand zunächst einzeln üben!) Andererseits fehlen bei vielen Übungen genauere Hinweise zu Haltung und Bewegungsform. Manchmal sind die Anleitungen auch fraglich: Soll man Oktaven tatsächlich nur «mit Hilfe des Handgelenks» spielen? Und etwa auch die vorgeschlagenen Fingersätze für chromatische Terzläufe überzeugen kaum.

Was ist also stattdessen zu tun? Wer ähnliches Material, aber in viel übersichtlicherem Format studieren möchte, kann vielleicht zu den Exercices préparatoires von Aloys Schmitt greifen. Staubtrocken zwar, aber recht effizient! Für Fortgeschrittene empfehlen sich nach wie vor die 51 Übungen von Johannes Brahms, die nicht nur die Finger, sondern auch den Geist auf Trab halten. Aber Vorsicht: Schon Brahms selber warnte vor einigen unangenehmen Nummern!

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Charles Louis Hanon: The Virtuoso Pianist. 60 Übungen zur Erzielung der Geläufigkeit, Unabhängigkeit, Kraft …, neu revidierte Ausgabe nach Alphonse Schotte, ED 22376, € 16.50, Schott, Mainz 2016

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