Klarheit im Dschungel der Versionen

Die Orgelsinfonie No. V von Charles-Marie Widor ist in einer Reihe von Neuausgaben bei Carus erschienen, die zum Ziel hat, einen repräsentativen Ausschnitt aus den Orgelwerken des Komponisten vorzulegen.

Charles-Marie Widor 1924. Foto: Agence Roi; Quelle: gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France

Mit der Herausgabe der bekanntesten Orgelsinfonien von Charles-Marie Widor (1844–1937) liefert der Carus-Verlag nach seiner Edition der Orgelwerke Louis Viernes einen weiteren wichtigen Beitrag in der Edition französischer Orgelsinfonik. Stellt sich bei Vierne vor allem das Problem zahlreicher Druckfehler, zum Teil mit der Sehschwäche des Komponisten zu begründen, ist es bei Widor die Frage nach der verbindlichen Fassung, für die sich ein Herausgeber entscheiden muss. Der Komponist revidierte seine Orgelsinfonien im Verlauf seines Schaffens mehrfach, wobei er immer wieder grössere oder kleinere Korrekturen und Anpassungen vornahm oder sogar ganze Sätze austauschte, so zum Beispiel im Fall der 2. Sinfonie, wo ein typisch romantisches «Jagdhorn-Scherzo» durch ein Salve Regina im Spätstil Widors ersetzt wurde, das nur schwer in den Kontext der anderen Sätze zu passen scheint. Aufgrund dieser Unterschiede zwischen den Fassungen gilt es sorgfältig zu entscheiden, welche Ausgabe man benutzt, umso mehr, als im Internet oder bei amerikanischen Reprint-Verlagen durchaus auch frühe Fassungen kursieren, die nicht dem «letzten Willen» des Komponisten entsprechen. So gibt z. B. die unter Studierenden beliebte, kostengünstige Dover-Ausgabe sämtlicher Sinfonien in zwei Bänden die Fassung von 1887 wieder. Abnutzung der originalen Druckplatten bereitet zudem gewisse Schwierigkeiten in Bezug auf die Leserlichkeit des Texts.

Im Fall der vorliegenden, dank ihrer rauschenden Schluss-Toccata wohl bekanntesten Sinfonie Widors, der fünften, erschienen erste Ausgaben 1879 und 1887, die aber 1901, 1902–11, 1920 sowie 1928/29 revidiert wurden, wobei Widor wie immer den Notentext überarbeitete und auch nach der letzten Auflage noch weitere Änderungen vollzog. So wurde der zweite Satz (ursprünglich eine ABA-Form mit integraler Reprise des A-Teils sowie einer Binnenwiederholung) für die letzte Edition durch Verzicht auf die Wiederholung und einen drastisch verkürzten A’-Teil um fast 150 Takte reduziert; in der Toccata ergänzte Widor Artikulationen und Akzente und verlangsamte das Tempo von Viertel = 118 auf 100 – eine klare und durch Widors eigene Aufnahme von 1932 belegbare Anpassung, die allerdings viele Interpreten bis heute ignorieren.

Bereits in den 1990er-Jahren erschien bei A-R Editions in den USA eine Kritische Gesamtausgabe aller Sinfonien, die minutiös über deren Textunterschiede und Lesarten Aufschluss gab, hierzulande allerdings kaum Beachtung fand. Die nun vorliegende Carus-Ausgabe von Georg Koch verwendet ebenso die letzte Revision der Sinfonie von 1928/29 als Hauptquelle, ergänzt durch spätere handschriftliche Korrekturen Widors; die Unterschiede der beiden Neuausgaben sind daher marginal. Der Kritische Bericht gibt Einsicht in Lesarten der früheren Fassungen oder Ergänzungen aus Widors Schülerkreis (im vorliegenden Fall z. B. Albert Schweitzers Handexemplar mit einem Kürzungsvorschlag), die zum Teil interessante Alternativen darstellen könnten, etwa bei gewissen Registrierungen, die Widor in seinem Spätstil weniger farbig und «abgeklärter» gestaltete als noch zwei Jahrzehnte zuvor. So verfügt der Spieler über eine zuverlässige, mit einem informativen Vorwort versehene Quelle, die ein klares Bild der Entstehungsgeschichte des Werks schafft und, genauso wie ihr amerikanisches Pendant, sehr zu empfehlen ist.

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Charles-Marie Widor: Symphonie No. V pour Orgue op. 42,1, hg. von Georg Koch, CV 18.179, € 29.95, Carus, Stuttgart 2018

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