Eine Verschollene der Musikgeschichte

Graham Griffiths ehrt Leokadia Kaschperowa mit einer speziellen Editionsreihe und verdient dafür grosses Lob.

Leokadia Kaschperowa. Foto: Boosey & Hawkes

Der Name Leokadia Kaschperowa dürfte selbst vielen Musikinteressierten kein Begriff sein. Und wenn doch, dann allenfalls als Igor Strawinskys Klavierlehrerin in St. Petersburg. Dabei galt sie gerade in dieser Musikmetropole zumindest bis zur russischen Revolution als hervorragende Pianistin und begabte Komponistin und war zudem eine sehr gefragte Pädagogin. Strawinsky erwähnt sie denn auch ausführlich in seinen Chroniques de ma vie und in den Gesprächen mit Robert Craft.

Leokadia Kaschperowa wurde 1872 in einem Dorf in der Nähe von Jaroslawl geboren. Sie studierte am Petersburger Konservatorium in der Eliteklavierklasse des legendären Anton Rubinstein und schloss 1893 mit Bestnoten ab. Zwei Jahre später beendete sie als Schülerin von Nikolai Solowjow auch noch ein Kompositionsstudium. Ihre wichtigsten Werke wurden in den folgenden zwanzig Jahren aufgeführt, darunter eine Sinfonie, ein Klavierkonzert, Chorwerke und viel Kammermusik.

1916 heiratete sie ihren Schüler Sergei Andropow, einen bolschewistischen Revolutionär und engen Vertrauten Lenins. Damit veränderte sich offenbar ihr Leben drastisch. Nach der Revolution trat sie gelegentlich noch als Pianistin auf, aber ihre Musik wurde kaum noch gespielt. Und als sie 1940 starb, gerieten ihre Person und ihr Werk völlig in Vergessenheit.

Seit einigen Jahren hat sich das geändert, nicht zuletzt dank der Initiative von Graham Griffiths, der bei Boosey & Hawkes einige ihrer Werke in einer speziellen Kashperova Edition herausgegeben hat. Ihm verdanken wir auch eine Neuausgabe der Klaviersuite Mitten in der Natur (Au Sein de la Nature) von 1910. Wie schon in zahlreichen Liedern und Kammermusikwerken manifestiert sich darin Kaschperowas innige Liebe zur Natur. Die sechs Sätze sind geschickt nach Schwierigkeit gestaffelt, was darauf hindeuten könnte, dass die Stücke auch für den Unterricht gedacht waren.

Die ersten vier Deux Roses und Deux feuilles d’automne sind schlicht gehalten und lassen sich (fast) vom Blatt spielen. Diese Schlichtheit ist allerdings alles andere als primitiv. Die Musik strömt und atmet mit einer wunderbaren Natürlichkeit gleich poetischen Versen, die sich ganz ungezwungen reimen. Das fünfte Stück Le murmure des blés, eine dankbare Klangstudie für flinke Finger, stellt dann schon grössere pianistische Ansprüche. Und das abschliessende Battage du blé mit seinem stampfenden Martellato bringt eine überraschend derbe Komponente ins Spiel.

Man muss dem Herausgeber für diese sorgfältige und ansprechend gestaltete Neuedition ein grosses Kompliment machen, nicht zuletzt auch dafür, dass man im Vorwort sowohl auf Englisch wie auf Deutsch und Französisch viel Wissenswertes über diese aussergewöhnliche Musikerin erfährt.

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Leokadiya Kashperova: In the midst of nature, suite for piano solo in six movements, hg. von Graham Griffiths, BH 13563, € 17.00, Boosey & Hawkes, London 2021 (Schott)

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