Rückblickende und vorausschauende Empfindungsträger

Wagners leitmotivisches Vorgehen ist vielschichtig und ermöglicht eine komplexe Aufladung der Handlung.

Ausschnitt aus dem Buchcover

Der Ausdruck «Leitmotiv» ist bei den Musikinteressierten so sehr mit Wagners Musikdramen verknüpft, dazu in einer wohl allzu vereinfachten Form, dass es immer wieder notwendig wird, die angehäuften Missverständnisse auszuräumen. Es sind nicht einfache Zeichen für Dinge wie Schwert oder Burg, für Personen wie Tristan oder Sieglinde oder für abstrakte Begriffe wie Liebe oder Betrug. Der Titel des Buches von Melanie Wald und Wolfgang Fuhrmann Ahnung und Erinnerung deutet es unmissverständlich an: Leitmotive verweisen auf etwas Kommendes (Ahnung) oder auf etwas Zurückliegendes (Erinnerung), sie verknüpfen den Ablauf vor- und rückwärts und sind viel mehr als nur Wegmarken der Handlung – Wagner selber spricht von «Gefühlswegweisern». Er ist auch nicht der Erfinder des Begriffs; Meyerbeer, Marschner und Berlioz sind ihm da vorangegangen, und erst die wagnersche Nachwelt hat den Begriff «Leitmotiv» für ihn reserviert.

Unermüdlich wird in dieser Darstellung darauf hingewiesen, wie vielschichtig Wagner Motive eingsetzt und dass er durch vielfaches Variieren einer einmal gesetzten Tonfolge – sei es durch Instrumentierung, Modulation oder durch rhythmische Veränderung – die feinsten Nuancen zum Klingen bringt, wobei vieles erst durch genauestes und mehrfaches Hinhören erschlossen werden kann. Beinah auf jeder Seite sind Entdeckungen zu machen, die durch zahlreiche, am Buchschluss zusammengefasste Notenbeispiele unterlegt werden. Faszinierend etwa der Nachweis, wie Wagner in der Götterdämmerung durch extreme Verdichtung der Harmonik, mit einer «verfilzten Leitmotivik» und dem «massiven Einsatz von Instrumentengruppen, um den typischen Mischklang zu erzeugen» einen «Mechanismus von erdrückender Gewalt» hervorruft.

Der Text ist sehr gut lesbar, der Aufbau in den Kapiteln didaktisch vorbildlich. Die Erläuterungen können aber nicht soweit vereinfacht werden, dass «dieses Buch auch musikalisch nicht oder nur wenig vorgebildeten Lesern verständlich und zugänglich sein wird, auch wenn sie gelegentlich musiktheoretische Fachsprache tolerieren müssen». Das ist ein ehrbarer, aber letztlich frommer Wunsch, weil nur schon die Beispiele mit harmonischen Bezügen ohne Vorbildung keinen Erkenntnis-Zuwachs ermöglichen. Es wäre aber, auch aus politischer Sicht, wünschenswert, dass solche Kreise mehr Einblick gewännen, weil die Phalanx der intoleranten Wagner-Gemeinde aus Unwissenden oder Halbgebildeten noch heute den grössten Zulauf erhält.

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Melanie Wald und Wolfgang Fuhrmann, Ahnung und Erinnerung – Die Dramaturgie der Leitmotive bei Richard Wagner, 269 S., € 24.95, Bärenreiter/Henschel, Kassel 2013, ISBN 978-3-7618-2260-9 

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