Musik muss aufrütteln

Buchrezension: In sprudelnden Gesprächen erhalten wir Einblick in das bewegte Leben des Bachspezialisten, Dirigenten und Musikpädagogen Helmuth Rilling.

Helmuth Rilling. Foto: Holger Schneider

Die geschickten Fragen des Publizisten und Dramaturgen Hanspeter Krellmann beantwortet Rilling so lebendig und ausführlich, dass ein spannender Lesefluss entsteht, unterbrochen von eingestreuten Fotografien. Nach dem Einstieg in die noch immer tätige Gegenwart des Achtzigjährigen und seine Einstellungen zu konsequenter Partiturtreue und Publikumsnähe (Gesprächskonzerte 2013) erfährt man von mutigen Beschlüssen und glücklichen Zufällen (Germani, Bernstein) seiner Studienzeit und vom fliessenden Übergang ins Berufsleben als Organist und Leiter der Gächinger Kantorei. Dank seiner kommunikativen Begabung und begeisternden Initiativen tat sich Tür um Tür auf. Er entkam den prekären Verhältnissen der Nachkriegszeit und gewann bald Einfluss über Stuttgart hinaus mit seiner konsequenten, alle am Musikgeschehen beteiligenden Führungskunst.

Das Ergebnis ist immens: Aufführung aller Bach-Werke, Konzerte des Bach-Collegiums in ganz Europa, eine neunseitige Diskografie, die Internationale Bachakademie in Stuttgart mit Forschungs-, Publikations- und Konzerttätigkeit und einer der bestsortierten Bach-Bibliotheken, weltweit durch ihn entstandene Bach-Festivals vor allem das seit 1970 bestehende in Eugene, Oregon (USA), viele erfolgreiche Chorleiter, die bei ihm an der Hochschule in Frankfurt studiert hatten, grosse Ausstrahlung der internationalen Oratorienwochen mit Jugendlichen und der jeweils eine Woche dauernden Bach-Akademien rund um die Welt (Leipzig, Prag, Moskau – über den Eisernen Vorhang hinweg! – , Santiago de Compostela, Tokio, Caracas), auf seine Bestellung hin entstandene Oratorien von Penderecki, Sandström, Pärt, Gubaidulina, Tan Dun, Golijov, Rihm.

Im Zentrum von Rillings Schaffen steht Johann Sebastian Bach. Er hat sich früh entschieden für eine selbstgeschaffene Mittelstellung seiner Interpretation zwischen der seit dem 19. Jahrhundert üblichen romantischen mit grossem Laienchor und Orchester und der seit 1950 aufkommenden Originalklangbewegung; sein Ziel ist das Hörbarmachen der Absichten des Komponisten, die er bei intensiver Partituranalyse erforscht: «Musik darf nie bequem sein, nicht museal, nicht beschwichtigend. Sie muss aufrütteln, die Menschen erreichen, sie zum Nachdenken bringen.» Er hat sich auch vielen andern Komponisten aller Zeiten zugewandt, aber nur den Werken, die diesen Kriterien genügten.

Wertvoll sind die vielen Aussagen über die Arbeitsweise bei Proben, das Dirigieren, den Umgang mit dem Text, den Einsatz von Frauen-, Knabenstimmen oder Countertenören, die  verschiedenen Schaffensphasen Bachs … Es ist kaum möglich aufzuzählen, was man alles beim Lesen aufnimmt! Schade, dass im Anhang Sach- und Komponistenverzeichnisse fehlen, denn das Bedürfnis, später etwas nachzuschlagen, ist gross.

Image

Helmuth Rilling Ein Leben mit Bach. Gespräche mit Hanspeter Krellmann, 216 S., € 24.95, Bärenreiter/Henschel, Kassel/Leipzig 2013 ISBN 978-3-7618-2324-8

 

Schlaglichter und Zitate aus dem Buch, ausgewählt von Walter Amadeus Ammann:

Seite 12    Zum wiederholten Aufführen eines der Werke aus seinem Kanon der Oratorien des 18. und 19. Jahrhunderts: Ich gehe zurück zu meinen Partituren und entdecke in ihnen oft Details, die mir bisher nicht aufgefallen sind. Für mich gilt: «Das ist jetzt ein neues Stück.»

13    Mit Gelassenheit lässt sich eine Problemsituation perspektivisch verändern.

15    Beethoven 9. Sinfonie, im letzter Satz stört ihn der Text: Seine enthusiastisch-utopische Sprache, die eine Denkweise transportiert, die ich schon früh nicht nachvollziehen konnte. Für den Hymnus bin ich noch zugänglich, aber es gibt einige quasi rezitativische Passagen mit dem Chor, wo mir das zu simpel klingt.

34/35    Wegen fehlender Testate vom Chor der Stuttgarter Hochschule wäre der ausschliesslich fleissig Orgel Übende nicht zum Chorleiterstudium zugelassen worden, wenn er nicht in zwei Tagen Kontrabass gelernt hätte, der im Orchester gefehlt hatte!

45    Bei der Gächinger Kantorei habe ich für mein Leben gelernt, dass der Dirigent allein, besser gesagt: ich als Dirigent, nichts ausrichten kann ohne das Zusammenwirken vieler Gleichgesinnter.

49    Kollegialität und Freundlichkeit Bernsteins bei den Proben. Ich erinnere mich an den damaligen Pauker, der ihm sagte, er könne nach seinem Schlag nicht spielen. Keine Stimmungstrübung daraufhin, sondern Lenny (Bernstein) sagte: «Dann mach’ ich es mal anders.» «Much better», sagte der Pauker zu ihm vor dem ganzen Orchester. Der Grundsatz bei Bernstein lautete mithin: «Ich bin zwar der Chef hier, aber ihr müsst die Musik machen. Also machen wir es zusammen.»

54/5    Was entsteht an Neuem, wenn ein kompetenter Komponist einen Text wählt und in Musik umsetzt? Dann nämlich entsteht über die Bereiche «vokal» und «instrumental» hinaus und durch die Verbindung der beiden Medien eine spezielle Klanglichkeit.

66    Im Konzert wird die Musik erlebt, vorher haben wir sie behandelt.

67    Die Anleitung zum Aufeinanderhören ist die wichtigste Erziehungsaufgabe eines Dirigenten.

68    Der Dirigent ist … vorrangig für die Grundbalance der Gruppen verantwortlich: das Verhältnis zwischen Sängern und Instrumentalisten und im Orchester das zwischen allen Orchestergruppierungen. Diese Balance muss der Dirigent in den Proben durchsetzen.

74    Was Schubert heraushebt, sind Empfindungen, die er in seinen Messen freisetzt. Sie sind von einer solchen Glut erfüllt, dass es schwerfällt, protestantische Komponisten zu benennen, die das auf ihre Weise ebenso erreicht hätten.

81    Choraufstellung in Reihen ergibt Mischklang.

82/3    Auswendig dirigieren: Ich möchte mit dem Ensemble musizieren. Dazu muss ich es in jeder Situation nicht nur sehen, sondern muss auch erkennen können, ob die Gruppen und auch die einzelnen Musiker bereit sind, auf bestimmte musikalische Abläufe zu reagieren.

84    Ich weiss durch lebenslang gewonnene Erfahrungen, was man als Dirigent bewegungstechnisch machen muss, um in der Aufführung bestimmte Dinge zu erreichen …

85    Ich finde es falsch, Solisten einfach singen zu lassen, sie nur zu begleiten. Ich muss sie führen und mit dem Ensemble, das sie begleitet, koordinieren.

91    Zur Gleichbehandlung der vokalen und der instrumentalen Artikulation: Bach hat (im Kyrie der h-Moll-Messe) dem Orchester eine eindeutige Artikulation vorgeschrieben … In den Chorstimmen steht, obwohl sie den identischen musikalischen Ablauf übernehmen, keine Artikulationsvorschrift … Gleiches musikalische Material – das ist eine meiner interpretatorischen Grundhaltungen – muss immer gleich behandelt werden.

96     Zum Originalklang: … Wir können eine Aufführung der Bach-Zeit vielleicht einigermassen rekonstruieren … Der heutige Hörer stimmt als Empfänger für die damalige musikalische Botschaft … nicht mehr … Für mich ist wichtig, … die Sinndeutung des Werkes für den Hörer von heute deutlich werden zu lassen.

97     Artikulation ist das wichtigste Gestaltungselement. Zum Beispiel muss ein Motiv jedes Mal, wenn es erscheint, … artikulatorisch stets gleich ausgerichtet sein, und zwar durch das ganze Ensemble hindurch … Ich habe über die Jahre immer mehr verstanden, dass das breite Spektrum von Artikulationsmöglichkeiten, von legato, non legato bis staccato, unendlich viele Nuancen aufweist und für die Deutung der Musik wie für die Klarheit einer Interpretation eine entscheidende Rolle spielt.

104     Bach ist der Lehrer aller Musiker

108/9     Vorbehalte gegen Händel: Händels Genialität entsprang dem Augenblickseinfall … Die Melodiestimme ist ihm wichtig, vielleicht auch noch die Bassstimme, aber was dazwischen liegt, wird schnell hingeschrieben und nicht erneut kritisch bedacht.

110     Bachs Schaffenshöhepunkt 1723–1730: Danach geht seine Kreativität zurück, stürzt beinahe ab … Umso bedeutsamer sind die wenigen neuen Stücke dieser Periode – etwa in der h-Moll-Messe das Et incarnatus, wohl sein letztes Chorstück überhaupt. Rilling erwähnt ferner noch Kunst der Fuge und Musikalisches Opfer.

111-125    Überblick und Beurteilung der wichtigsten Oratorien-Komponisten. Sprachprobleme für deutsche Aufführungen von Janáček und Martinů.

128    Dynamische Vorschriften sind selbst in romantischen Partituren nicht ausreichend, weil ff für Blechbläser und Holzbläser nicht gleichbedeutend ist.

180    Bach selbst … ist … das Rückgrat meiner gesamten Arbeit. Daneben wollte ich die Sprache unserer Zeit hörbar werden lassen. … Ich bin der Ansicht: Jeder heute lebende Mensch, der ausführender Musiker ist, und keine zeitgenössische Musik aufführt, sollte ein sehr schlechtes Gewissen haben.

181    Mich hat die Darmstädte Schule … nicht überzeugt. Der Stil einer Musik war mir nie das Wichtigste. Mir ging es darum, dass Musik einen Gestus erkennbar werden lässt, der etwas ausdrückt, das auch Zuhörer zu empfinden in der Lage sind.

184    Zu Aufnahmesitzungen im Studio: Auch ohne Livesituation muss man sich bei Aufnahmen dafür einsetzen, dass nicht nur alles korrekt zugeht, sondern dass das Emotionelle, das Einmalige einer Aufführung bewahrt bleibt.

Das könnte Sie auch interessieren