Orgelmusik der Tudor-Zeit

Zwei qualitativ hervorragende Bände erschliessen ein bislang wenig bekanntes Repertoire.

Thomas Tallis auf einem Glasfenster der St Alfege Church in Greenwich, in deren mittelalterlichem Vorgängerbau der Komponist begraben wurde. Foto: Andy Scott / wikimedia commons

Während elisabethanische Musik für Tasteninstrumente von Komponisten wie Byrd, Gibbons, Farnaby oder Bull ihren Weg ins Konzertrepertoire gefunden hat, ist der umfangreiche Korpus an erhaltener Orgelmusik aus der Tudor-Zeit, entstanden ca. 1520–1560, hingegen kaum je zu hören. Mit zwei Bänden Early Tudor Organ Music hatten die Herausgeber John Caldwell (*1938) und Danis Stevens bereits 1966 in einer Pionierleistung die wesentlichen Quellen dafür – in erster Linie das in der British Library aufbewahrte MS 29996 – für die Praxis erschlossen. Fast 60 Jahre später ist nun, wiederum herausgegeben von Caldwell, eine prachtvolle zweibändige Neuausgabe dieses Repertoires erschienen, die in jeder Hinsicht den neuesten wissenschaftlichen Standards und dem aktuellen Stand der Wissenschaft entspricht.

Es handelt sich ausschliesslich um liturgische Musik, die in Verbindung mit der damals in England gemäss dem Sarum Use praktizierten Ausprägung der Gregorianik, aber auch mit mehrstimmigen «Faburdens» (von denen einige im Appendix abgedruckt sind) oder «auskomponierten» Vokalsätzen alternatim aufgeführt wurde: Versetten zu Hymnen, Antiphonen, für das Te Deum bzw. das Magnificat sowie für das Mess-Ordinarium. Ein umfangreiches Vorwort liefert eine Fülle von Informationen zur Aufführungspraxis, zum tudorianischen Orgelbau, über die Komponisten (am bekanntesten, neben vielen Anonymi, wohl Thomas Tallis, Thomas Preston oder John Redford) sowie zu editorischen und quellenkritischen Fragen.

Die über 100 Stücke – jeweils eingeleitet durch ausführliche kritische Berichte, Erläuterungen sowie Angabe der vokalen Vorlagen – geben einen Einblick in eine zunächst wohl etwas fremdartig anmutende Klangwelt, die sich durch einen strengen Satz und eine faszinierende rhythmische Komplexität auszeichnet. Wer sich über die klangliche Umsetzung informieren will, findet übrigens online einige neuere Tonaufnahmen (u. a. auf den wenigen bisher rekonstruierten Instrumenten dieser Epoche) sowie liturgie- und musikwissenschaftlich begleitete «Re-Enactments» von Gottesdiensten aus dieser Zeit, z. B. im Rahmen des Forschungsprojekts «Experience of Worship» der Bangor University.

Fazit: Wer sich mit diesem weitgehend unbekannten Repertoire grundlegend auseinandersetzen möchte, findet hier eine Publikation, die höchsten Ansprüchen genügt und deren hoher Preis durch die ausserordentlich sorgfältige Erarbeitung der beiden Bände gerechtfertigt wird.

Early Tudor Organ Music, Vol. 1 und 2, ed. by John Caldwell, (Early English Church Music Band 65/66), EECM65/EECM66, 246/210. S., £ 100/85, Stainer & Bell, London 2024

 

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