Der helvetische Flamenco

Etwas Spanischeres lässt sich kaum denken. Aber ausgerechnet in der Schweiz entwickelte sich eine Flamencokultur von internationaler Bedeutung, die nun in Vergessenheit gerät.

Szene aus «Romance de Carmen y Don José ». Foto: Gyennes

Schon früh haben sich bekannte Komponisten aller Nationalitäten vom Exotismus eines imaginären Spaniens inspirieren lassen. Von Scarlatti über Liszt und Rimski-Korsakow bis zu Debussy oder Ravel ist ihre Musik von solchen Elementen geprägt worden.

Dieses Phänomen ist seit dem 19. Jahrhundert auch in der Schweiz zu beobachten: Joachim Raff, Hans Schäuble oder Armin Schibler schrieben mehrere Stücke nach spanischer Art. Damals begann die spanische Einwanderung in die Schweiz. Sie verstärkte sich während der Weltkriege und des spanischen Bürgerkriegs. Obwohl die offizielle Schweiz den Einsatz von Kriegsfreiwilligen an republikanischer Seite nicht billigte, wurden Visa für ausreisewillige Republikaner ausgestellt. Das Spanische Manifest, am 1. Mai 1937 von Hans Mühlestein am Basler Barfüsserplatz verlesen, spricht für die engen Bindungen zwischen der Bevölkerung beider Nationen. Die Sprache hinderte keineswegs den kulturellen Austausch: Der Schweizer Enrique (Heinrich) Beck gilt als erster Übersetzer von Federico García Lorca. 1944 bewilligte die Fremdenpolizei im Zürcher Schauspielhaus die Erstaufführung des Theaterstücks Bluthochzeit im deutschsprachigen Raum, kurz darauf jene von Bernada Albas Haus. Paul Burkhard komponierte die Musik dazu.

Misstrauen gegenüber dem «Spanischen»

Wo spanische Musikelemente auftreten, ist der spanische Tanz nicht weit. Die ersten repräsentativen Flamencofiguren kamen aber kurioserweise nicht aus Spanien: Tänzerinnen wie Petra Cámara, Lise Bonnet oder Fanny Elssler tourten schon seit 1850 mit ihren exotischen, teils erfundenen Flamencoschritten durch Europa. Selbst die erste Flamencolegende La Argentina lancierte ihre Karriere und lebte ausserhalb Spaniens.

In der Schweiz erlebte man ab dem ersten Weltkrieg eine richtige Einwanderungswelle grosser Künstler, die ihre Spuren hinterliessen. Musik und Tanz bekamen wichtige Impulse. Besonders stark war die Symbiose zwischen spanischen Tanzformen und hiesigen Ausdruckstänzen. Ein in dieser Hinsicht überaus interessantes kulturelles Ereignis war der Erste Schweizer Tänzerwettbewerb 1939 im Rahmen der Landesausstellung in Zürich. Er zog die bekanntesten Tänzerinnen und Tänzer der Schweiz an wie Suzanne Perrottet, Lilly Roggensinger oder Dora Garraux.

Das Medienecho liefert wertvolle Zeugnisse davon: Die NZZ schrieb, es sei verständlich, dass «(…) die weiblichen Konkurrentinnen sich dem spanischen Tanzstil zuwandten, der mit seiner Lockerung der Hüften, den kräftigen Klopfschritten und dem koketten Augenfeuer sinnliches Temperament vortäuscht», während die Zeitung Volksrecht despektierlich reagierte: «(…) ganz zu verwerfen ist die Heranziehung bedeutender Musik zu Stimmungsmache und rhythmischen Sklavendiensten, umgekehrt ist weder der Musik noch dem Tanze gedient, strenge musikalische Satzformen tänzerisch nachzuahmen. Unter den Sujets war das Spanische auffallend beliebt, das häufig in schönen Lösungen gezeigt [wurde].» Dass die Schweiz ein potenzielles Tanz- und Musikkulturerbe hätte unterstützen und entwickeln können, verstanden in dieser Zeit nur wenige Menschen.

Eine Schweizerin verbreitet den Flamenco weltweit

Neben bekannten Tänzerinnen trat dort eine junge Susanne Looser (später Susana Audéoud) auf. Ihr Interesse galt dem Flamenco. Später ging sie nach Spanien, wo sie mit José de Udaeta ihre erfolgreiche Kompanie gründete. Auf der Suche nach Musikern engagierten sie einen jungen Mann, Armin Janssen, der zu diesem Zeitpunkt sein Klavierstudium fortsetzte und fasziniert mitmachte. Bald tauchte er als Flamencokomponist Antonio Robledo auf.

Antonio Robledo in Platja de Aro. Foto: Hans-Dieter Hefele

Erst in Spanien, dann weltweit eroberten sie die Bühnen. In vielen Ländern wurde Flamenco so erstmals aufgeführt. Ihre Arbeit ist von grossem ethnomusikologischem Wert: Spanien bereisten sie mit dem Aufnahmegerät im Koffer. Sie entdeckten und unterstützten grosse Persönlichkeiten des Flamencos, die in der Geschichte des Gesanges eine wichtige Rolle spielten: Carmen Linares, La Talegona (die bis dahin als Putzfrau in grosser Not gelebt hatte), Sernita (die einzige existierende Aufnahme seiner Stimme verdanken wir ihnen) und neben vielen anderen auch Enrique Morente. Zu dritt begannen sie, ihr eigenes Konzept von einem in Flamencostil getanzten Ballett zu entwickeln.

La Celestina (1966) wurde erfolgreich aufgeführt und die Komposition auf Langspielplatte verkauft. Aus der Experimentierfreude entstand auch die 1985 in der Schweiz produzierte Choreografie und weitere Aufnahme: Obsesión. Die ungewöhnlichen Orgelklänge und Morentes machtvolle Stimme überzeugten die Fachspezialisten. Anders empfand das Publikum die sinfonische Zusammenarbeit der beiden: An der berühmten Bienal de Flamenco bezeichnete man sie als Kunstverbrecher. Zwanzig Jahre später feierte man sie hingegen als heilige Retter des puren Flamencos. Wichtige Flamencokünstler, die mit ihnen arbeiteten, reden noch heute liebevoll und mit grossem Respekt über Armiño und Susana.

Gewichtiges Erbe, grosse Namen, wenig Widerhall

Nicht nur in der Musik hinterliessen sie Spuren: Susanas innovatives Erbe brachte eine Erneuerung und Konsolidierung des Flamencoballetts, was selbst Legenden wie Antonio Gades beeinflusste und ihn veranlasste, das Konzept mit seiner Kompanie zu übernehmen. Pädagogisch wirkten Armin und Susana in Opernhäusern, Universitäten und Balletttruppen. Ihre Zusammenarbeit mit der Ballet of Toronto wurde von Cynthia Scott filmisch festgehalten und gewann 1983 sogar einen Oscar als beste kurze Dokumentation. Die Synthese mit der spanischen Kultur gelang ihnen dermassen gut, dass man sie in verschiedenen Medien irrtümlich als spanische Flamencokünstler feierte.

Momentaufnahme aus «Capricho de Goya Nr. 75». Foto: S. Elkenmann

In der Schweiz spielte Susana in der Tanzprofessionalisierung eine wichtige Rolle. Ihre Erbinnen wurden weltbekannt: Brigitta Luisa Merki leitete die Kompanie Flamencos en route vierzig Jahre, entwickelte Susanas Konzept weiter und feierte Erfolge im In- und Ausland. Nina Corti, La Carbona und Bruno Argenta avancierten zu bedeutenden Tanzkünstlern. Teresa Martin wurde eine international anerkannte Tänzerin und Choreografin. Robledo widmete ihr viele Kompositionen.

Teresas Vater, der Komponist Frank Martin, wurde auch von Susanas und Robledos Sturm mitgerissen: Seine Stücke zeigten von da an Tendenzen der Flamencomusik (u. a. Fantaisie sur des rhymes flamencos, 1973, oder Trois danses, 1970). Dazu entwarf Teresa Choreografien und tanzte sie auf der Bühne. Der Pianist Paul Badura-Skoda oder Ursula und Heinz Holliger spielten an den Uraufführungen. Andere Komponisten wie Joaquín Rodrigo oder Rolf Looser waren begeistert und komponierten auch für sie.

Dass dieses aussergewöhnliche Kapitel der schweizerischen Kulturgeschichte in Vergessenheit geriet, dürfte nicht nur den finanziellen Kürzungen im Tanz- und Musikbereich geschuldet sein: Die Vorstellung, dass ein bestimmter Stil nicht zur Identität des Ur-Schweizerischen passt – also uns «spanisch» vorkommt –, spielt sicher auch eine Rolle. Solche Vorurteile in der Rezeption kultureller Bewegungen der Schweiz tragen dazu bei, dass dieses einmalige Kulturerbe von den Bühnen und aus dem Bewusstsein schwindet.

*

Isora Castilla ist Pianistin und Musikwissenschaftlerin. Ihre mehrjährige Forschung an der Universität Bern wird demnächst in Spanien und der Schweiz als Buch publiziert.

Illustration von Irène Zurkinden

Das könnte Sie auch interessieren