Beethoven lebt im Emmental
Das Langnauer Orchester besteht vorwiegend aus Laien. Diese verwalten ihr traditionsreiches Ensemble nicht nur selbst, sie spielen auch erfolgreich ambitionierte Werke.
Mit dem Emmental assoziiert man Käse, üppige Kulinarik in Landgasthöfen und Jeremias Gotthelf. Aber nicht unbedingt Beethoven. Doch in Langnau, einem Hauptort des Emmentals mit rund 9000 Einwohnern, gibt es gegenwärtig einen Beethovenzyklus mit allen Sinfonien, der 2027, zum zweihundertsten Todestag des Komponisten, mit der Neunten enden wird. Bestritten wird das ambitionierte Projekt nicht von Gastorchestern, sondern vom Langnauer Orchester, einer Formation von hoch motivierten Laien.
Das künstlerische Niveau ist erstaunlich hoch und widerlegt die Meinung, eine Beethovensinfonie sei nur etwas für hoch subventionierte Orchester und Leute, die für die Berliner Philharmoniker in Luzern locker 300 Franken zahlen. Langnau ist der Beweis, dass man sie auch im Dorf haben kann. Auf einen kleinen Patzer hier oder einen zögerlichen Einsatz dort kommt es dabei nicht an, die Spielfreude macht den Mangel an technischer Höchstleistung wett. Die monumentale Eroica, die vor einem Jahr auf dem Programm stand, dürfte für das Orchester wohl die ultimative Feuertaufe für den Umgang mit Beethovens Orchestertechnik gewesen sein und es auf dem Weg zum charakteristischen «Beethoven-Ton» entscheidend vorangebracht haben.
Furchtlose Konzertprogramme
Die Programme, die vom Dirigenten Christoph Metzger in Absprache mit dem Orchester zusammengestellt werden, lassen mit ihrer Unvoreingenommenheit manche städtischen Philharmonien alt aussehen. Vor einem Jahr gab es zur Eroica ein Kontrastprogramm mit Mauricio Kagels Zehn Märsche, um den Sieg zu verfehlen, und Anfang Februar erklang nun in Langnau die Vierte in einer attraktiven Kombination mit dem Concertstück für vier Hörner und Orchester von Robert Schumann und den sechs Klavierliedern op. 13 von Clara Schumann, instrumentiert von Masayuki Carvalho. Für die romantische Ausdruckswelt der Lieder, die in den ersten Jahren ihrer Ehe mit Robert Schumann entstanden, fand Jeannine Nuspliger mit schön abgerundetem Sopran den passenden Ton. Das mächtig auftrumpfende Hörnerquartett bei Schumann wurde angeführt von Hans Stettler, Orchestermitglied seit nunmehr fünfzig Jahren; die anderen drei waren Zuzüger.
Solide Finanzen aus eigener Kraft
Stettler ist zugleich Präsident des Langnauer Konzertvereins und für die Organisation der Konzerte verantwortlich – das Orchester verwaltet sich selbst, es gibt keine bezahlten Angestellten. Auch finanziell steht man auf eigenen Füssen, von Gejammere über mangelnde Subventionen ist nichts zu hören. Die Musikerinnen und Musiker sind Vereinsmitglieder und zahlen einen Jahresbeitrag von zwei- bis vierhundert Franken – wer will, auch mehr. Studierende zahlen zwanzig Franken jährlich. Daneben gibt es noch die vielen Passivmitglieder. Das deckt die niedrig gehaltenen Betriebskosten und die Honorare von Dirigent und Konzertmeister. Mit den Konzerteinnahmen wird das Projekt inklusive Solisten finanziert. An den Konzertverein, unter dessen Dach das Orchester, der Konzertchor und eine Kammermusikreihe angesiedelt sind, zahlt die Gemeinde ausserdem im Rahmen eines Leistungsvertrags jährlich 15 000 Franken. Mit Sponsoren ist man eher zurückhaltend und baut lieber auf die Zuwendungen von Gönnern, die dann auch die Konzerte in der vollbesetzten Langnauer Kirche besuchen.
Glücksfall Dirigent
Das Selbstbewusstsein, mit dem in Langnau musiziert wird, ist beeindruckend. Man fühlt sich als Teil einer alten Tradition. Das Orchester wurde 1866 gegründet, zwei Jahre vor dem Zürcher Tonhalle-Orchester, und konnte vor acht Jahren das 150-jährige Bestehen feiern. Die Identifikation der Musikerinnen und Musiker ist gross, und das liegt nicht zuletzt an Christoph Metzger, dem künstlerischen Leiter seit 2006. «Wir haben noch nie einen Dirigenten gehabt mit einer solchen pädagogischen Kompetenz», sagt Hans Stettler, «er gibt uns das nötige Vertrauen auch für die schwierigen Dinge.» Die Mitgliederzahl sei mit ihm stetig gewachsen, gerade bei den Bläsern. Die Bratschistin Marianne Etter-Wey, Schulleiterin und seit über zwanzig Jahren dabei, ergänzt: «Es ist ungeheuer animierend, mit Christoph Metzger zu arbeiten. Man lernt viel, die Stimmung ist ausgezeichnet. Unser Orchestermotto ‹Emotion vor Perfektion› bringt das auf den Punkt.»
Für sie wie für viele andere bilden die wöchentlichen Proben einen willkommenen Ausgleich zum Berufsalltag, zumal bei dem anspruchsvollen Repertoire, das von Bachs Passionen über die Dritte von Brahms bis zu Verdis Requiem und Le Roi David von Arthur Honegger reicht. Und Experimente wie mit Kagel sorgen für grossen Spass. Nachwuchsprobleme gibt es keine, dank der Zusammenarbeit mit der lokalen Musikschule, von wo die Begabtesten langfristig ins Orchester hineinwachsen können.
Es sind gesunde Strukturen, die das Langnauer Orchester am Leben erhalten. Die Basis bilden übersichtliche Verhältnisse, solides Wirtschaften, persönliches Engagement und Freude am Musizieren: Hochkultur, bürgerlich-demokratisch geerdet. Unwillkürlich denkt man an die gefährlichen Legitimationskrisen, denen die Institutionen in den grossen Zentren ausgesetzt sind, und man ertappt sich beim Gedanken, dass das Langnauer Modell für das Überleben unserer Musik vielleicht wichtiger sein könnte als der auf Spitzenkonsum ausgerichtete Hochglanzbetrieb in den Metropolen.