Beispiel Beethoven

Anhand des Beginns der 5. Sinfonie in c-Moll op. 67 von Ludwig van Beethoven erläutert Schenker den Unterschied der ästhetischen Position zwischen sich und Wagner. Der Wissenschaftler, der zu Gunsten der Ausarbeitung seiner theoretischen Betrachtungsweise das eigene kompositorische Arbeiten zurückgestellt hat, schreibt in seinen Analysen die Stücke gleichsam nach. Deshalb kann diese Tätigkeit selbst als ein schöpferischer Akt angesehen werden. Dabei geht er von einem Ursatz bzw. einer Urlinie aus, welche auf einer Hintergrundebene die Werke der Dur – Moll tonalen Epoche zusammenhalten. Seine Analysen entwickeln also alle Phänomene eines Stückes aus einer Urzelle heraus, wobei aufgezeigt wird, wie jedes klingende Motiv mit diesem einheitsstiftenden Ursatz in Zusammenhang steht. Die Darstellungsweise ist also deduktiv, sich von einem Hintergrund, über einen Mittelgrund in die Ereignisse an der Oberfläche emporarbeitend. Goethes Begriff der Urpflanze steht in engem Zusammenhang mit Schenkers Bezeichnung des Ursatzes.

In seiner Analyse der oben erwähnten Sinfonie in Heft 1 aus Der Tonwille erläutert der Wiener Theoretiker, dass er nicht – wie es normalerweise geschieht – die ersten beiden Takte (g’ g’ g’ es’) als das Motiv des ersten Satzes ansieht, sondern die Gemeinschaft der ersten fünf Takte. Erst mit der um eine Sekunde tiefer gesetzten Wiederholung (f’ f’ f’ d’) haben wir die vollständige Keimzelle. Diese Unterscheidung mag auf den ersten Blick sophistisch erscheinen, bei genauerem Hinschauen ist sie aber wesentlich. Dadurch, dass die ersten fünf Takte als Einheit aufgefasst werden, die sich in zwei Teilmomente gliedern lassen, wird die Idee des Motivs auf die Sekundbewegung von es’ zu d’ gelegt. In der anderen Betrachtungsweise, bei welcher die ersten fünf Takte aus zwei addierten Elementen bestehen, kommt die Aufmerksamkeit unweigerlich auf die Achtelbewegung mit dem anschliessenden Terzsprung abwärts zu liegen. Für die Art und Weise der Hermeneutik ist dieser Unterschied von entscheidender Bedeutung. Schenker zeigt anschliessend, wie die melodische Keimzelle es’ – d’ in der Fortsetzung wiederum aufgegriffen und weitergeführt wird.

Richard Wagner hingegen sieht die ersten beiden Takte als ein in sich abgeschlossenes Motiv mit einer eigenen Ausdruckskraft an. Diese Ansicht bekundet er in seinen Schriften Über das Dirigieren und Über das Operndichten und Komponieren. Schenker zitiert den entsprechenden Passus aus der ersten Schrift, er sei hier in vollem Wortlaut wiedergegeben: «Nun setzen wir den Fall, die Stimme Beethovens habe aus dem Grabe einem Dirigenten zugerufen: ‹Halte du meine Fermate lange und furchtbar! Ich schrieb keine Fermaten zum Spass oder aus Verlegenheit, etwa um mich auf das Weitere zu besinnen; sondern, was in meinem Adagio der ganz und voll aufzusaugende Ton für den Ausdruck der schwelgenden Empfindung ist, dasselbe werfe ich, wenn ich es brauche, in das heftig und schnell figurierte Allegro, als wonnig oder schrecklich anhaltenden Krampf. Dann soll das Leben des Tones bis auf seinen letzten Blutstropfen aufgesogen werden; dann halte ich die Wellen meines Meeres an, und lasse in seinen Abgrund blicken; oder hemme den Zug der Wolken, zerteile die wirren Nebelstreifen, und lasse einmal in den reinen blauen Äther, in das strahlende Auge der Sonne sehen. Hierfür setze ich Fermaten, d. h. plötzlich eintretende lang auszuhaltende Noten in meine Allegros. Und nun beachte du, welche ganz bestimmte thematische Absicht ich mit diesem ausgehaltenen Es nach drei stürmisch kurzen Noten hatte, und was ich mit allen den im Folgenden gleich auszuhaltenden Noten gesagt haben will.›»

Wagner rückt also seine Deutung in die Nähe der von Anton Schindler überlieferten Metaphorik, so poche das Schicksal an die Pforte. Schenker hält dem folgende Replik entgegen: «Gesetzt auch den Fall, in des Meisters Phantasie hätte sich mit der Rhythmik des Motivs die Ideenverbindung eines an die Pforte pochenden Schicksals eingestellt, so waltet über dieses Pochen hinaus doch nur die Kunst ihres Amtes, nicht mehr das Schicksal. Und wollte man auch hermeneutisch deuten, es ringe Beethoven mit dem Schicksal den ganzen Satz entlang, so wäre am Ringen eben nicht nur das Schicksal allein beteiligt, sondern auch Beethoven, nicht aber allein der Mensch Beethoven, sondern noch mehr Beethoven der Musiker. Rang Beethoven also in Tönen, so genügt keine der Legenden und keine hermeneutische Deutung, um die Tonwelt zu erklären, wenn man nicht eben mit den Tönen so denkt und fühlt, wie sie gleichsam selbst denken.» (kursiv gesetzt vom Autoren).

Damit sind zwei grundsätzlich verschiedene ästhetische Prinzipien ausgesagt. Schenker deutet die Musik gleichsam von innen heraus, er ist interessiert an der Struktur und versucht die Musik aus dieser Erkenntnis heraus zu verstehen. Dabei verschliesst er sich keineswegs dem Ausdruck, nur überlässt er die inhaltliche Bestimmung den Zuhörenden. Da er darauf nicht Einfluss nehmen will, sucht man in seinen Analysen vergeblich nach solchen Hinweisen. Ihn interessiert an einem Kunstwerk nicht, was es ist, sondern wie es gemacht ist. Je genauer die Machart erkannt werden kann, um so präziser wird sich auch der Ausdruck und die Empfindung danach richten. Schenker verstand also das Verhältnis von Struktur und Ausdruck ganz in dem Sinne, wie es Helmut Lachenmann einmal beschrieben hat: «Und das ist ein konstruktiver Wille, der geht mit den Dingen ordnend oder auch zersetzend um. Alles, was ein Komponist macht, was er konstruiert, überträgt sich nachher als Ausdruck. Für mich ist der Begriff Struktur nur die Rückseite dessen, was wir als Hörer Ausdruck nennen.»

Beispiel Bach

Hingegen ist Wagner in erster Linie am Ausdruck interessiert. Ihm hat sich ein Stück erschlossen oder offenbart (um einen Wagnerschen Terminus zu benutzen), sobald er dessen Ausdruck erfahren hat. Vielsagend in dieser Hinsicht ist eine Beschreibung in Über das Dirigieren von Interpretationen aus dem Wohltemperierten Clavier von Bach. Der Dichterkomponist beschreibt eine Darbietung des Präludiums und der Fuge in es-Moll aus dem WTC I (die dis-Moll Tonart der Fuge erwähnt Wagner nicht) eines namhaften älteren Musikers und Genossen Mendelssohns. Dieses Vorspiel schien ihm so harmlos und nichtssagend zu sein, dass er sich dabei in eine neuhellenische Synagoge versetzt fühlte. Um sich von diesem peinlichen Eindruck zu reinigen, bat er einmal Franz Liszt, ihm Präludium und Fuge in cis-Moll vorzutragen. Seinen Eindruck gibt er mit folgenden Worten wieder: «Nun hatte ich wohl gewusst, was mir von Liszt am Klaviere zu erwarten stand; was ich jetzt kennen lernte, hatte ich aber von Bach selbst nicht erwartet, so gut ich ihn auch studiert hatte. Aber hier ersah ich eben, was alles Studium ist gegen die Offenbarung: Liszt offenbarte mir durch den Vortrag dieser einzigen Fuge Bach, so dass ich nun untrüglich weiss, woran ich mit diesem bin, von hier aus in allen Teilen ihn ermesse, und jedes Irrewerden, jeden Zweifel an ihm kräftig gläubig mir zu lösen vermag.»

Es ist sehr bemerkenswert, dass Wagner sich durch Liszts Spiel die bachsche Musik offenbaren lässt, seinem eigenen Studium der Kompositionen des Meisters aus Eisenach eine untergeordnete Bedeutung zumisst. Was ihm die Musik zu sagen hat, holte er in diesem Beispiel nicht aus der eigenen Erkenntnis, sondern er lässt sich die inhaltliche Aussage geben von einem Interpreten, der seinen Geschmack trifft.

Die Erkenntnis von Struktur wird gerne als Feind des Ausdrucks und Einschränkung der künstlerischen Freiheit angesehen, dabei könnten sich diese beiden Pole gegenseitig bedingen und befruchten. Ich jedenfalls habe immer die Erfahrung gemacht, dass die Erkenntnis der Struktur die Schönheit einer Komposition letztlich erst ermöglicht hat. Ohne diese Arbeit kann ich Kunst sehr wohl als angenehm empfinden, das ist aber nicht der Grund, weswegen ich mich damit beschäftige. Die Analysemethode von Heinrich Schenker ist mir jedenfalls eine grosse Hilfe, die Schönheit der Musik erfahren zu können, wobei hier Schönheit als Spiel angesehen wird, wie die verschiedenen strukturellen Ebenen miteinander im Gespräch sich befinden und wie sich die Vielschichtigkeit in der Einheit spiegelt und umgekehrt. Wer die Probe aufs Exempel machen will, kann sich einmal mit dem kurzen Aufsatz Die Kunst zu hören aus dem dritten Heft von Der Tonwille beschäftigen. Ich bin der Überzeugung, dass die Qualität der Wahrnehmung der ersten vier Takte des darin besprochenen bachschen Präludiums in Fis-Dur aus dem WTC I durch die dargelegten Stimmführungsbeziehungen gesteigert wird. Allerdings wird man beim Lesen des Textes noch einen anderen Charakterzug entdecken, den Schenker mit Wagner verbindet, nämlich die penetrante Weise, Andersdenkende stets zu verunglimpfen. Dies scheint mir bei beiden aber mehr ein schützender Panzer zu sein, unter dem ihre Arbeit erst gedeihen konnte.

Im soeben erwähnten Aufsatz ist es Hugo Riemann, der Opfer von Schenkers Tiraden geworden ist. Auch wenn diese Art der Ausdrucksweise abstossend ist, weil sie absolut unnötig und der Sache nicht dienlich ist, so hat Schenker doch nicht unrecht. Im Katechismus der Fugenkomposition beschreibt Riemann alle Präludien und Fugen aus dem WTC von J.S. Bach. Daraus wähle ich – um ein weiteres Beispiel anzufügen – das Präludium in c-Moll aus dem WTC I. Riemann charakterisiert dieses Stück ganz aus der romantischen Sichtweise heraus. Er verwendet Metaphern, die an Beethovens 5. Sinfonie und an der Grande sonate pathétique op.13 gebildet wurden. Das Stück ist für ihn ganz aus dem Geiste der c-Moll Tonart geboren, voll verhaltener Kraft und vibrierender Leidenschaftlichkeit. Beim Prestoteil spricht er gar von einem losbrechenden prasselnden Hagelwetter. Zu solchen inhaltlichen Bestimmungen kann man gelangen, ohne von Struktur, Kompositionstechnik und Stimmführung etwas verstehen zu müssen. Sie zeugen auch nicht von einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Stück, sondern sind Ausdruck einer äusserlichen inhaltlichen Bestimmung. Die Expressivität wird in dieser Umgangsform mit Kunst nicht aus dem Objekt herausgeholt, sondern wird diesem gleichsam aufgepfropft.

Schlussbemerkungen

Der Sinn eines Jubiläumsjahres kann ja auch sein, auf Verborgenes und Verschüttetes wieder aufmerksam zu machen. Im Falle von Richard Wagner wäre es zum Beispiel die immer noch herrschende romantische Musikauffassung – trotz historischer Aufführungspraxis – zu überdenken und zu reflektieren.

Friedrich Schiller schreibt im 23. Brief seiner Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen folgende Gedanken: «In einem wahrhaft schönen Kunstwerk soll der Inhalt nichts, die Form aber alles tun; denn durch die Form allein wird auf das Ganze des Menschen, durch den Inhalt hingegen nur auf einzelne Kräfte gewirkt. Der Inhalt, wie erhaben und weitumfassend er auch sei, wirkt also jederzeit einschränkend auf den Geist, und nur von der Form ist wahre ästhetische Freiheit zu erwarten.»

Schiller, der – wie Goethe als Naturforscher – als Philosoph meines Erachtens zu wenig gewürdigt wird, erarbeitete in seinen ästhetischen Schriften den philosophischen Unterbau für eine Theorie vom Zuschnitte Heinrich Schenkers. Wahre ästhetische Freiheit ist von der Kenntnis der Form, also von der Struktur zu erwarten und nicht durch die Vermittlung von Inhalt. Aufgabe wäre es also, Struktur nicht als ein Abstraktum zu verstehen, welche als inhaltsleer und empfindungslos wahrgenommen wird (oder gar als Feind von Expressivität), sondern im Gegenteil als Auslöser für die unendliche Vielfalt der Gefühlswelt stehen würde. An dieser Stelle sind der praktische wie auch der theoretische Musiker gefragt, der erstere insofern, als er sich auf Strukturen als Grundlage von Interpretation besinnt und der zweite durch eine Art der Vermittlung, welche das Verhältnis von Struktur und Inhalt bewusst thematisiert.
Wie modern Schenker dachte, zeigt sich auch daran, dass er zu einer Zeit, wo es Mode war, die Ausgaben der klassischen Werke mit interpretatorischen Angaben wie Bögen, dynamischen Zeichen etc. zu überziehen, sich darauf besonnen hat, möglichst den Willen der Komponisten wiederzugeben, indem er als Herausgeber auf alle diese Zutaten verzichtete und den Notentext so authentisch wie möglich wiedergab.

Raphael Staubli ist Dozent für Theorie an der Hochschule Luzern-Musik.