Genf – Paris, zweimal hin, einmal zurück
Pierre Wissmers Kammermusik und nicht weniger als neun Sinfonien sind heute fast vergessen. Ein Anlass, sein Leben zwischen Rhone und Seine, zwischen Salons und Institutionen Revue passieren zu lassen.
Pierre Wissmers Kammermusik und nicht weniger als neun Sinfonien sind heute fast vergessen. Ein Anlass, sein Leben zwischen Rhone und Seine, zwischen Salons und Institutionen Revue passieren zu lassen.
Sohn eines Arztes und einer Russin aus reichem Haus, besucht Pierre Wissmer in Genf, seiner Heimatstadt, das Konservatorium. Er spielt Klavier, ist aber rasch angezogen von der Komposition, auch wenn ihn der altmodische Akademismus seines Harmonie- und Kontrapunktlehrers enttäuscht. Mit dem Einverständnis seiner Eltern fährt er nach Paris, wo er an der Schola Cantorum die Schweizer Pianistin Jacqueline Blancard kennenlernt. Sie will den jungen Mann auf die Aufnahmeprüfung für das Conservatoire national supérieur vorbereiten. Die Nacht vor dem Examen verbringt Wissmer jedoch an einer ausgelassenen Feier – und fällt durch. Er schreibt sich nun an der Schola Cantorum ein, wo er bei Lazare Lévy Klavier und bei Daniel Lesur Kontrapunkt studiert. In dieser Zeit reift der Entschluss, Komponist zu werden. Als Hörer verfolgt er am Conservatoire die Vorlesungen von Roger Ducasse.
Als hübschem jungem Mann mit immer tadellosem Äusseren stehen ihm die Türen der besseren Kreise offen. Durch die Vermittlung von Pierre Guérin lernt er Igor Strawinsky, Francis Poulenc, Pierre Bernac, Henri Sauguet, Jean Cocteau, François Mauriac, Hervé Dugardin, Christian Bérard und Leonor Fini kennen, ebenso den berühmten Musikkritiker Claude Rostand. Wissmer liebt es, in dieser Gesellschaft Aufsehen zu erregen, was ihm als Rennvelofahrer, Alpinist und Wasserskifahrer nicht schwer fällt. Sein schickes Auto, ein Delage, das König Carol II. von Rumänien gehört haben soll, trägt zum Erscheinungsbild bei.
Schon seine Jugendwerke strahlen eine überschäumende Energie aus. Sein erstes Klavierkonzert, geschrieben mit 22 Jahren, wird von Alexandre Uninsky und dem Komponisten selbst in einer Version für Klavier zu vier Händen in Brüssel uraufgeführt. 1938 dirigiert Hermann Scherchen Wissmers 1. Sinfonie in Winterthur. Im Folgejahr entsteht das einaktige Ballett Le beau dimanche, das 1944 von Ernest Ansermet auf die Bühne des Grand Théâtre de Genève gebracht wird. Ansermet wird zur entscheidenden Persönlichkeit, die immer wieder Opern, Ballette, aber auch Orchesterwerke Wissmers in Genf zur Aufführung bringt. Auch Edmond Appia, der Dirigent des Radio-Orchesters in Genf, trägt zu dessen Bekanntwerden bei.
1944 wird Wissmer Kompositionslehrer am Conservatoire de Genève und Chef der Abteilung Kammermusik beim Genfer Radio. Dort werden auch seine ersten kammermusikalischen Werke, etwa die Sonatine für Violine und Klavier (1946), aufgeführt. Sein grosses Interesse gilt den Zeitgenossen Ligeti, Messiaen, Dutilleux und Lutoslawski. Bereits 1951 verlässt Wissmer Genf jedoch wieder, er wird zum Programmdirektor des Luxemburger Radios und Fernsehens ernannt. Dieser Posten bleibt ebenfalls Zwischenstation. 1957 kehrt er als Vize-Direktor und Lehrer für Komposition und Orchestration an die Schola Cantorum von Paris zurück. Er ersetzt dort Daniel Lesur, der zum Direktor der Pariser Oper aufsteigt. Wissmer bleibt nun in Frankreich, nimmt die französische Staatsbürgerschaft an. Er hält sich auch gern in der Provence auf. Dort, im Weiler Valcrose, komponiert er sein Concerto Valcrosiano, ein viersätziges Orchesterwerk, das 1966 uraufgeführt wird. Wissmer stirbt in Valcrose 1992.
Wissmers Musik zeichnet sich durch eine energische, zugespitzte Tonsprache aus. Seine Orchesterwerke zeigen markante Abstufungen und kontrastierende Klangfarben. Dies wird ganz besonders deutlich in der 5. und 6. Sinfonie (komponiert 1969 und 1975-77), die von der Schwere und Tragik des menschlichen Schicksals geprägt sind.
In den letzten Jahren ist beim Label Naxos und bei Marcal Classics eine ganze Reihe von Aufnahmen mit den Werken Wissmers neu erschienen, so alle neun Sinfonien, Klavier- und Violinkonzerte, Kammermusik für Gitarre und für Gesang und das Oratorium Le quatrième mage (Der vierte König).
Für das Jubiläumsjahr 2015 ist ein Buch von Pierrette Germain-David und Jean-Jacques Werner mit dem Titel Pierre Wissmer un compositeur du XXème siècle angekündigt.
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