Was hören wir eigentlich den ganzen Tag mit dem inneren Ohr? Lässt sich dieser Klang gestalten?

Jemandem ist ein Farbeimer hingefallen. Auf dem grossen Platz Spuren von Fahrradreifen, Fussabdrücke, Linien, Bögen und Rhythmen in Weiss. Dieser Farbunfall zeigt das Abbild vieler vergangener Bewegungen. Während ich diese weissen Spuren betrachte und sie mit dem Blick und in Gedanken nachfahre, fällt mir ein Zitat ein: «Alle Wahrnehmung eines Rauschens in der Kunst hat die Form eines Tanzes, wie reglos wir diesen auch ausführen mögen.»(1)

Ich mag diesen Satz und finde, irgendwas daran fühlt sich wahr an. Irgendwas daran hat mich allerdings auch schon immer gestört. In diesem Moment fasziniert mich daran besonders der Kontrast: reglos – Tanz / stumm – Musik. Auch weil ich mich schon sehr lange frage, wie das eigentlich funktioniert, innen im Kopf Musik zu hören, obwohl draussen vor den Ohren Stille herrscht.

Bei einem Soundwalk mit Hildegard Westerkamp habe ich zum ersten Mal bewusst wahrgenommen, dass es sowas wie eine innere Klangwelt gibt. Die kanadische Komponistin hatte den Begriff verwendet, als sie uns darauf vorbereitete, dass wir während des Rundgangs unsere Gedanken nicht würden abstellen können. In unserem Inneren würden sie immer zu hören sein, so sehr wir uns auch auf die Klänge im Aussen konzentrierten. Darauf war ich also gefasst und störte mich nicht daran, während wir schweigend durch die Darmstädter Fussgängerzone liefen. Gemeinsam lauschten wir, wie der Metallgully unter unseren Füssen klapperte, wie die Mittagsglocken vom Kirchturm sich mit Motorengeräuschen mischten und wie verwaschen und undeutlich die Fahrradklingel im Hall der Unterführung klang. Kalt erwischte mich dann aber der Lärm der Werbebotschaften. STOP! SUPERGÜNSTIG! NUR 3,99€!, so dröhnte es in mir, obwohl niemand ein Wort sprach. Bilder und Slogans, Schilder und Schriften drängten grell in mich hinein. Da, wo Schrift ist, erkannte ich, kann es für den, der sie lesen kann, nicht still sein.

Da begann ich, das Toben und Treiben und Spiel in meiner inneren Klangwelt zu beobachten und mich darüber zu wundern. Hört eigentlich jeder seine eigene Stimme im inneren Ohr beim Lesen, fragte ich mich? Oder sind da auch andere Stimmen? Und wenn ja: Wo kommen die her? Lassen sie sich gestalten? Hörst du dann innen drin auch das, was ich höre, auch wenn draussen Stille herrscht?

Ein Komponist, der mit dem Klingen der inneren Stimmen arbeitet, ist der Litauer Ignas Krunglevicius. In seiner Performance Deviance (2011) wird ein Gespräch zwischen drei Parteien in Schriftform auf drei Leinwände projiziert: ein Verhör, eine Therapiesitzung, ein klärendes Gespräch zwischen einem Richter oder Therapeuten, einem Elternpaar und einem Psychopathen, der brutale Morde begangen hat. Das Erscheinen der Wörter wird von acht Musikern durch perkussive Signale begleitet. Von allein bilden sich in der Stille dazwischen die Charaktere heraus: drei Stimmen. Grossbuchstaben sorgen für mehr Lautstärke im Inneren, es kommt zu einem Schlagabtausch. Und da, ein Gender-Twist! Die ganze Zeit habe ich gedacht, der brutale, perverse Killer wäre ein Mann. Doch nein, es muss ein Mädchen sein! Und die Stimme, die ich mir vorgestellt habe, verändert sich, verharrt kurzzeitig in einer seltsamen Schräglage, halb Mann, halb Frau, bevor sie in eine Richtung kippt: Da! Das Mädchen!

Dass Buchstaben in die innere Klangwelt hineinwirken, ist eigentlich gar nicht so verwunderlich. Schliesslich hat man sie erfunden, um Laute zu symbolisieren. Rätselhaft ist eher, dass das Entziffern dieser Symbole so still in uns hineingesunken ist. Wie Alberto Manguel in seinem Buch Eine Geschichte des Lesens beschreibt, war Lesen ursprünglich eine laute Tätigkeit: «Seit den ersten sumerischen Tontafeln waren geschriebene Worte dazu bestimmt, laut gesprochen zu werden: Jedes Schriftzeichen trug in sich einen bestimmten Klang – wie eine Seele. […] Mit einem geschriebenen Wort konfrontiert, muss der Leser den stummen Buchstaben, den scripta, Stimme verleihen und sie […] in verba, in gesprochene Worte verwandeln.»(2) Das Gemurmel und Geschwatze, das früher überall zu hören gewesen sein muss, wenn jemand las, tragen wir jetzt zumeist innen mit uns umher.

Eine grosse Sensibilität für die innere Klangwelt beweist die irische Komponistin Jennifer Walshe in ihren Arbeiten. Sie ruft die inneren Klänge jedoch nicht mit Hilfe von Buchstaben, sondern über den Einsatz von Video hervor. In Violetta Mahon’s Dream Diaries 1988–2008 werden vier Videobilder neben- und übereinander gezeigt. Darauf zu sehen: das Zerschmelzen eines Schokoladenhasen. Wie pastellfarbene Bonbons mit Liebesmotiven hingelegt und wieder weggenommen werden. Wie ein batteriebetriebener Stoffhase trommelt. Manchmal sind nur zwei Bilder zu sehen. Manchmal übereinander, manchmal überkreuz. Durch die parallel stattfindenden Bewegungen entsteht so etwas wie Mehrstimmigkeit, allerdings ohne dass auch nur eine Stimme zu hören ist. Walshe begreift Video als essenziellen Bestandteil ihrer Kompositionen: «The video is never a seperate element that somebody else composes, its something that I compose.»(3)

Was aber geschieht in der inneren Welt beim Betrachten dieser Videos? Kann ich das wirklich Klang nennen? Ist das nicht eher ein Gefühl für Rhythmus, für Motive, für Linien und Bögen … Ist das Musik – oder ist das nicht eher – ein Tanz?

Ich schaue auf die weissen Spuren auf der Strasse, und auf einmal weiss ich, was mich an dem Zitat stört. Was soll da überhaupt das Rauschen? «Alle Wahrnehmung von Kunst hat die Form eines Tanzes, wie reglos wir diesen auch ausführen mögen.» Ein innerer, regloser Tanz, beim Lesen von Texten, beim Hören von Musik, beim Betrachten von Bildern und Videos.

Weisse Fussabdrücke, Fahrradreifen. Linien und Bögen. Ein Tanz in meiner inneren Welt.

 

Anmerkungen
1 Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2003
2 Alberto Manguel: Eine Geschichte des Lesens, Berlin Verlag Volk und Welt, 1998, S. 60
3 Jennifer Walshe in einem Interview mit der Autorin bei den Darmstädter Ferienkursen, August 2012