Eine Probe im Internet

Spezialisierte Software und Nutzergemeinschaften machen es möglich, mit Musikern zu proben, die weit weg sind. Was können diese Produkte und wo sind ihre Grenzen.

1996 fanden zwei merkwürdige Experimente statt. Beteiligt waren die Universität Genf und das German National Research Center for Information Technology in einem Vorort von Bonn. Am 30. Mai probten ein Pianist und ein Sänger in Genf mit einem Sänger in Deutschland mit Hilfe eines audiovisuellen Systems. Es ging vor allem darum, eine neue Netztechnologie zu testen, und dazu war dieses Projekt ideal, denn die Musik bedingt einen sofortigen und kontinuierlichen Austausch der auditiven Informationen in beiden Richtungen. Am 15. November desselben Jahres bereiteten Musiker in Genf eine Aufführung von Pierre Boulez’ Dérive vor – unter der Leitung eines Dirigenten in Deutschland. Grosse Bildschirme zu beiden Seiten und ein künstlicher Kopf ausgestattet mit Mikrofonen vor der Musikergruppe sollten dem Dirigenten einen Eindruck vermitteln, als stünde er vor dem Ensemble.

Beide Experimente sind keine zwanzig Jahre her, gemessen an der Existenz des Internets aber gewissermassen im Mittelalter. Schon früh haben Musiker also versucht, die neue Technologie für Fernproben zu nutzen. Gerade bei vielbeschäftigten Profis ist es oft schwer, sich für «richtige» Proben zu treffen, oder es findet sich kein geeigneter Raum.

Einen Takt später
Um das Jahr 2000 kamen dann mehrere Programme zum musikalischen Austausch auf, etwa Ninjam, eJamming oder JamNow. Und mit ihnen Lösungen, wie man das Problem der Latenz, der Verzögerung des Signals von einem Punkt zum anderen, in den Griff bekommen könnte. Einige sind seltsam. Bei Ninjam wird die Musik von einem Ort zum anderen um einen Takt verschoben. Die Latenzzeit wird auf ein musikalisches Mass, einen Takt, ausgedehnt. Man spielt also mit anderen, die überall auf der Welt sein können, und jeder hört seine Mitspieler einen Takt, nachdem sie gespielt haben. Das klingt bizarr, und es bringt auch einige Musiker völlig aus dem Konzept. Andere können sich bestens darauf einstellen und jammen stundenlang mit Gleichgesinnten. Daraus hat sich eine grosse Gemeinschaft gebildet, die im Netz sehr aktiv ist. Unzählige Audio- und Videobeispiele dokumentieren, dass das Programm sehr gut funktioniert vor allem im Jazz, Rock und Pop, wo auf Folgen von acht oder zwölf Takten jeder sein Solo spielt.

Ninjam wurde seit 2006 nicht mehr aktualisiert, wird aber immer noch intensiv genutzt. Das Programm ist wohl weniger geeignet, um eine grössere Anzahl von Mitspielern an den verschiedensten Orten zu einer Probe zusammenzuführen, es ist aber ideal, um Musiker in fernen Ländern kennenzulernen und mit ihnen zu spielen, ohne das eigene Zimmer zu verlassen.

Technischer Fortschritt
eJamming wurde 2010, also deutlich später als Ninjam, entwickelt und jat das Problem der Latenz gelöst. Dank den immer schnelleren Internetanschlüssen können die Musiker in Echtzeit zusammenspielen. Im Unterschied zu Skype bietet eJamming eine viel bessere, mit der CD vergleichbare Tonqualität. Im Moment arbeiten die Entwickler an einer neuen Version, eJamming Studiio. Sie soll neben dem Ton auch das Bild einbeziehen, so dass sich die Musiker bei der Probe auf Distanz auch sehen. Eine andere Erweiterung, eJamming Teach, wird für den Austausch zwischen Lehrern und Schülern aufgebaut und wird auch Partituren und pädagogische Materialien zugänglich machen. Im Gegensatz zu Ninjam kostet dieses professionellere System allerdings 90 Dollar pro Jahr.

Trotz der Fortschritte und Bequemlichkeit ist es unwahrscheinlich, dass diese Systeme dereinst die gute alte Probe ersetzen werden. Aber sie bieten die Möglichkeit, über räumlichen Hindernisse hinweg mit anderen zusammenzuspielen, irgendwo mitzuspielen, ohne einer festen Gruppe anzugehören, oder neue musikalische Techniken kennenzulernen, indem man fernen Kollegen zuhört. Und das ist schon eine ganze Menge.

> www.cockos.com/ninjam/

> www.ejamming.com