Hypnotische Lösungen für Musiker
Eignet sich Hypnose für Musiker? Anhand zweier Problemfelder – Lampenfieber und motorische Komplikationen – werden erfolgreich erprobte hypnotische und hypnopädagogische Lösungswege vor dem Hintergrund des aktuellen Wissensstandes skizziert.
Eignet sich Hypnose für Musiker? Anhand zweier Problemfelder – Lampenfieber und motorische Komplikationen – werden erfolgreich erprobte hypnotische und hypnopädagogische Lösungswege vor dem Hintergrund des aktuellen Wissensstandes skizziert.
Hypnoseerfahrene Psychologen (1 – Red.: Anmerkungen jeweils am Ende des Textabschnitts) und Ärzte wundern sich nicht über einen Befund, der während der letzten Jahre an den weltweit grössten Fachkongressen zur Hypnose – etwa in Bremen oder Paris – immer wieder herausgestellt wurde: Trancefördernde (2) Umstände erleichtern die Nutzung hypnotischer Verfahren und Effekte. Das gilt selbst für unangenehme Formen von Trance, sogenannte «Problemtrancen»: So schildern viele Zahnärzte, die zur Angstreduktion oder Anästhesie mit Hypnose arbeiten, wie sehr die ängstlich-erwartungsvolle Aufmerksamkeit des Patienten vor dem zahnärztlichen Eingriff das Überleiten in eine gewünschte Hypnose erleichtert. Auch eignen sich solche Situationen, in denen also von selbst tranceartige Zustände auftreten, als Rahmen und Auslöser posthypnotischer (3) Reaktionen. Wie bedeutend und zielführend die Effekte dabei sind, hängt nicht nur von der Hypnosefähigkeit des Klienten, sondern auch von der kompetenten, hoch flexiblen Durchführung der Hypnose ab, unter Berücksichtigung der persönlichen und situativen Gegebenheiten. Das neuerdings inflationäre Angebot scheinbarer Hypnoseanwendungen, die oft im blossen Hersagen oder gar Vorlesen von Standardtexten bestehen, verschleiert dabei die eindrücklichen Möglichkeiten fachkundig durchgeführter Hypnose.
Dass gerade Musiker sowohl mit unangenehmen, wie auch mit beflügelnden Trancezuständen vertraut sind, liegt auf der Hand – nicht nur aufgrund des Absorbiertseins durch die Auftrittssituation und den Abruf ausgedehnter Erinnerungssequenzen, die eine Art «hypnomorphes Geschehen» darstellen, sondern auch durch die Versenkung in die Musik. Betrachten wir einmal den letzten Fall in einer Art Stimmungsbild: Wir sitzen im Konzertsaal. Die Klavierklänge von der Bühne hatten uns, die Zuhörer, schon gleich am Anfang auf berückende Weise gefesselt und unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen. Wir werden zauberhafte Wege eines grossen Werks entlanggeführt. Die Pfade scheinen sich allmählich in entlegene Gefilde zu verlieren, bis wir inne werden, dass selbst die Seiten- und Umwege uns mehr und mehr entführen, zu entrückten Höhen hinauf. Man spürt es jetzt auch, wie der Musiker dort gleichsam Atem schöpft und sich weit über das Land erhebt, um die Flügel freier ausbreiten zu können zum unbeirrbaren Flug, den Abendstern wie ein fernes Leuchtfeuer im Blick. Und irgendwie versteht das versunkene Publikum den Künstler auf der Bühne – versteht auch dieses Zwiefache: Selber das zu gestalten, was ihn trägt. Kraft in die Musik zu geben, die doch von der Musik herkommt. Das Publikum nimmt wahr, wie dort am Flügel das Tun und das Geschehenlassen kaum mehr zu unterscheiden sind, während zugleich, so wie jetzt auch im Saal, alles Äussere zurücktritt.
Nun würde man zwar weder beim Pianisten noch bei seinem Publikum von einem eigentlichen hypnotischen Vorgang oder Zustand sprechen wollen. Das wäre auch nicht zutreffend und überdies vermessen – schon deshalb, weil die Musik mit tiefster, allem Denken und Reden ewig unerreichbarer Wahrheit zu tun hat und sich jeder Reduktion auf irgendein Anderes entzieht. Aber dennoch zeigen die Besonderheiten des Geschehens und Erlebens in Hypnose manche damit verwandten Züge. Das lässt uns dann auch verstehen, dass ein grosser Musiker wie Rachmaninow, in schwerer Krise, so sehr von der Hypnose profitieren konnte, dass er sein nach der Behandlung geschriebenes 2. Klavierkonzert seinem Hypnosearzt, Nikolai Dahl, gewidmet hat. Welche verwandten Züge also sind gemeint? Etwa diese: Tief in einer Betrachtung oder Wahrnehmung versunken zu sein, von dieser fasziniert, bewegt zu veränderter Aufmerksamkeit, die sich letztlich mehr nach innen richtet, wobei anderes zurücktritt, bei veränderter Zeit- und Körperwahrnehmung, wandelnd in einem Grenzbezirk zwischen Tun und Geschehenlassen: Das wäre eine durchaus typische Beschreibung der Erfahrung in Hypnose. In der Hypnose freilich ist dann oft – nicht immer – die Wachheit reduziert: Im Verlauf einer mitteltiefen, also normalen klinischen Hypnose, treten häufig längere Phasen auf, während derer man sich wie kurz vor dem Einschlafen fühlt, in einer Art von träumerischem oder tagträumerischem Zustand, wo man eher in Bildern denkt, oft auch nicht mehr genau zuhört und doch wahrnimmt, dass z. B. angekündigte körperliche Reaktionen wie automatisch auftreten. Man beobachtet dann, dass bei einem selber etwas abläuft, was auf bewusst kontrollierendes Mitwirken nicht angewiesen ist.
Was ist der Nutzen solcher hypnotischer Erfahrungen? Nun, man kann damit besonders wirksam Erlebens- und Verhaltensweisen sowie vegetative und muskuläre Reaktionen verändern. In Hypnose gelingt es leichter als im hellen Wachzustand, eingeschliffene, immer gleiche Muster des Denkens, des Fühlens, der Wahrnehmung oder des Verhaltens zumindest versuchsweise liegenzulassen, um sich Neuem zuzuwenden. Dabei ist die Suggestibilität (besonders im Rahmen erwünschter und natürlicher Reaktionen) erhöht, und der Zugang zu Gefühlen – und über diese auch zum episodischen Gedächtnis – erleichtert. Der «stille Beobachter» im Hintergrund bleibt dabei immer präsent und stets in der Lage, den Zustand zu beenden. Das ist eine wichtige und durch verschiedene empirische Untersuchungen belegte Tatsache: Man kann also niemanden in Hypnose zu Handlungen bewegen, die er nicht auch im Wachzustand akzeptieren könnte. Bringt ein Showhypnotiseur jemanden dazu, wie ein Hund auf allen Vieren zu gehen oder den grauhaarigen Herren in der ersten Reihe am Schlips zu ziehen usw., dann hat der Proband – nachweislich – sehr wohl realisiert, was er tut und hätte es auch unterlassen können. In diesem Fall ist es aber so, dass er ja ein sozial – nämlich vom Hypnotiseur wie auch vom Publikum – erwünschtes Verhalten zeigt, welches zudem «durch den hypnotischen Zustand» als entschuldigt gilt und für das er hinterher Applaus erntet. Man darf also derlei Befürchtungen ohne weiteres beiseitelegen, wenn man sich anschickt, Hypnose als ein Instrument zur Bewältigung berechtigter Anliegen zu nutzen.
Wir wollen uns nun im Folgenden zwei Themenkreisen zuwenden, die für Musiker von besonderer Bedeutung sind: Lampenfieber und motorische Komplikationen.
Anmerkungen 1 bis 3
1 Es wird hier die kürzere, männliche Form verwendet, obgleich natürlich von Frauen und Männern gleichermassen die Rede ist. Damit – wie auch mittels dieser Anmerkungen – soll zur sprachlichen Glättung des Textes beigetragen werden.
2 Mit «Trance» sind Zustände veränderten Bewusstseins gemeint, z. B. eingeengte oder erweiterte Aufmerksamkeit, Veränderung der Körper- und Zeitwahrnehmung, grössere Nähe zu Gefühlen usw.
3 Das sind erwünschte Reaktionen, die in der Hypnose vorbereitet bzw. angelegt werden, damit sie im beabsichtigten Zusammenhang dann von selber auftreten.
Lampenfieber
Erinnern wir uns zunächst der eingangs geäusserten Feststellung, dass trancefördernde Bedingungen die Nutzung der Hypnose erleichtern. Wir hatten am Beispiel einer befeuernden und erhebenden «Trance» – im grossartigen Konzert – einige mit hypnotischer Trance verwandte Züge herausgearbeitet, um diesen Sachverhalt vor Augen zu führen. Wenden wir uns nun aber einer ganz anderen, eher der erwähnten zahnärztlichen Problemtrance verwandten, musikertypischen Situation zu: dem Auftritt. Auch da finden wir – selbst im häufigen Fall eher leichter, anspornender, befeuernder Formen von Lampenfieber – die Absorption der Aufmerksamkeit durch die Situation, das Zurücktreten von anderen Wahrnehmungen, das veränderte Körper- und Zeitgefühl und ein Erleben, dass Dinge ablaufen, die wir nicht kontrollieren. Gerade Letzteres fällt dann bei stärker ausgeprägtem Lampenfieber oder gar eigentlicher Auftrittsangst (vgl. zu dieser etwas künstlichen Unterscheidung: Spahn et al., 2011, S. 150) besonders auf: Herzklopfen bis zum Hals, kalte und nasse Hände, weiche Knie, eingeschränktes Gesichtsfeld, trockener Mund, flache Atmung, Anspannung – also die verschiedenen körperlichen Korrelate der Angst, wobei zudem die Fähigkeit zur willentlichen Konzentration, oft auch das Selbstvertrauen herabgesetzt ist und der Gedächtniszugriff gestört sein kann. Wir wollen hier vorerst nur dieses festhalten: Die Symptomatik, die sich zumindest in dieser schweren Form sehr leistungsmindernd auswirken kann, illustriert geradezu beispielhaft, was wir weiter oben als Problemtrance bezeichnet hatten. Und gerade diese – zunächst störende – Gegebenheit kann nun der Nutzung hypnotischer Effekte dienlich sein, wie alsbald deutlich werden soll.
Voraussetzung für erfolgreiche Auftritte jeder Art (nicht nur musikalische) ist natürlich stets die Beherrschung des vorzutragenden Programms. Aber bereits während dessen Erarbeitung können Massnahmen getroffen werden, welche einerseits die bevorstehende Auftrittssituation entschärfen und andererseits das, was nicht entschärft werden kann, zielführend «umnutzen». Den hypnosegestützten Interventionen muss in einem ersten Gespräch – bei einem mit Hypnose arbeitenden Arzt oder Psychologen – eine eingehende Erörterung vorausgehen: der individuellen Probleme, der bisherigen Auftrittserfahrungen, der Ressourcen, der Übepraxis sowie biografischer Gegebenheiten. Erst dann kann sich das Vorgehen z. B. den folgenden Möglichkeiten zuwenden, die zwar nicht immer alle zur Anwendung kommen müssen, aber doch als Facetten eines sehr wirksamen Gesamtkonzepts gelten dürfen:
A)
In der Hypnose lässt sich zunächst ein dem (unangenehmen) Stresserleben auf der Bühne entgegengesetzter, angenehmer Zustand herstellen, der gleichwohl in Richtung der erforderlichen Agilität, Präsenz und Flexibilität modelliert werden kann. Zu diesem angst- und stressfreien, aber dennoch agilen Zustand soll nun in einem weiteren Schritt die Vorstellung der Bühne und des Publikums hinzugenommen werden, bei stets wiederholter Überprüfung und Wiederherstellung des – körperlich und geistig – gewünschten Erlebens. Dadurch wird eine assoziative Neuorientierung erreicht: An Stelle der bisherigen Verbindung Bühnensituation–Lampenfieber, wird die Verbindung mit dem gewünschten, gelösten Erleben etabliert. Der Zielzustand wird hier also nicht durch Habituation (Gewöhnung) erreicht, sondern in der Als-ob-Realität der Trance in die Stresssituation hineingetragen, die dadurch neutralisiert bzw. «umerlebt» wird. Obgleich nun dieses Vorgehen durch gelegentliche Wiederholung zuhause – mittels einfacher Selbsthypnoseverfahren – vertieft und gefestigt werden kann, so ist dennoch einem wichtigen Umstand Rechnung zu tragen: der Tatsache nämlich, dass ein zumindest ansatzweises Auftreten nervöser Symptome zu Beginn des tatsächlichen Auftritts meist nicht verhindert werden kann (ausser bei Klienten, die besonders stark auf Hypnose und direkte Suggestionen reagieren). Leichtfertiges – und damit eben: falsch verstandenes – «positives Denken» ist hier fast immer kontraproduktiv. Man muss sich auf die nervösen Symptome einstellen und keinesfalls diese jeweils unmittelbare Manifestation des Lampenfiebers schon an der Wurzel verbieten wollen. Andernfalls begibt man sich bereits wieder in jenen berüchtigten Angstkreis hinein, der schon bisher für die Symptomatik verantwortlich war: Nervöse Körpersymptome –––> aha, es hat also doch nichts genützt ––> ängstliche Erwartung weiterer dysfunktionaler Reaktionen -––> Verstärkung der Symptome ––>Zunahme der Fehler und Gedächtnisausfälle -––> usw. usf. Es muss also darauf abgezielt werden, die Ernstfallsituation auch dann erfolgreich zu bewältigen, wenn Zeichen des Lampenfiebers schon da sind! Wie dies geschehen soll, beschreiben die Punkte B) und C).
B)
Nur mit gebührender Umsicht und vorbereitend auf den anschliessenden Punkt C: Angst bzw. Stress sollen vor imaginiertem Publikum in der Als-ob-Realität der Trance erlebt werden, bei gelingendem Spiel – also Gelingen im Stresszustand. Dieses Vorgehen zielt somit darauf ab, unter Stress und Angst gut handlungsfähig zu bleiben.
C)
Hypnotische Prozeduren zur Gefühlstransformation: Verwandlung von belastenden, lähmenden in beflügelnde, belebende, souverän-gelöste Gefühle – sozusagen vom Lampenfieber hin zum olympischen Feuer. Ist dies in Hypnose hinreichend etabliert, so dienen die beim Auftritt gespürten Zeichen des Lampenfiebers, also der beginnenden «Problemtrance», als Anker und Einstieg in die hypnotisch eingeübte Gefühlstransformation. Anders ausgedrückt: Bleibt die Problemtrance auf der Bühne aus, so brauchen wir auch nichts zu transformieren. Tritt aber eine Problemtrance (hier in Form des Lampenfiebers) auf, so wird damit der in Hypnose an diesen Problemzustand geknüpfte gelöste Zielzustand aktiviert. Das ist im Übrigen durchaus nichts Unnatürliches: Es ist ja im Grunde derselbe Vorgang, den viele erfolgreiche Musiker seit Jahrhunderten auf der Bühne erlebt haben. Solche Umnutzung und Umformung des Problemerlebens erleichtert dann auch die erforderliche Rückorientierung der Aufmerksamkeit auf die Musik.
Besonders bei A) und C) werden auch eigentliche Entspannungssuggestionen eine Rolle spielen. Sie sollten aber mit der nötigen Umsicht gestaltet werden, da der Auftritt ja einen leistungsorientierten Rahmen darstellt: Da hat man sich nicht in tiefste, entspannte Ruhe hineinzubegeben, sondern den Entspannungsaspekt hauptsächlich auf muskuläre Gelöstheit und freie Präsenz zu beziehen, die dann auch in der an und für sich hochwachen und konzentrierten Situation zur Verfügung stehen kann.
D)
Ressourcenorientierte (und somit wahrheitsgemässe) Korrektur von Selbstabwertung und überstarken Selbstzweifeln. Geeignete persönliche Ressourcenerfahrungen können in Hypnose meist wesentlich leichter gefunden und aktiviert werden (Bongartz & Bongartz, 2000, S. 232). Diesbezüglich ist es zudem auch wichtig, sich auf die Identität als Musiker zu besinnen, der über alle mögliche Unzulänglichkeit hinweg jederzeit mit dem hehren, zutiefst sinnhaften Geschehen der Musik zu tun hat, die – als ein innerliches Anliegen – ein Teil seiner Persönlichkeit ist. Hilfreich ist dabei durchaus, sich zu erinnern an Ereignisse, wo berühmte Musiker sogar noch aus dem Abgrund falscher Töne umso ergreifender die Grösse der Musik erstehen liessen. Klavierspieler mögen hier etwa an Cortot denken.
E)
Immer werden auch direkte Suggestionen in Hypnose – dass alles Gelernte zur Verfügung steht, dass man ruhig, klar, konzentriert ist usf. – gegeben, wobei wiederum die Symptome der Problemtrance als Anker genutzt werden können, diese Sicherheit pünktlich auf der Bühne herzustellen. Dies z. B. so, dass der Beginn oder Anstieg der Symptome beim Betreten der Bühne als Anker dient. Der Betreffende merkt dann, wie das in Hypnose angelegte Zielempfinden beim Überqueren der Bühne auftritt.
F)
Nutzung von Selbsthypnose zur weiteren Etablierung des bisher Geschilderten, aber auch zur habituellen muskulären Lockerung und Verbesserung der Körperbewusstheit – selbst während des Spielens (sowohl zu Hause, als auch beim Auftritt).
Lampenfieber: Facetten hypnotischer Intervention
Nach Klärung der individuellen Gegebenheiten (Vorgespräch):
- Assoziative Neuorientierung betr. Bühnensituation
- Handlungsfähigkeit unter Stress erhöhen
- Gefühlstransformation (mit Ankerung betr. Auftritt)
- Ressourcenorientierte Korrektur von Selbstzweifeln
- Direkte Suggestionen in Hypnose
- Selbsthypnoseverfahren zur selbständigen Weiterarbeit
Mit welchem Zeitaufwand ist insgesamt zu rechnen? Wenn wir von Blitzerfolgen bei besonders geeigneten Probanden absehen, die erst Tage vor dem Auftritt in der Praxis erscheinen, und nach einer einzigen klassischen Hypnosesitzung – mit direkten Suggestionen – plötzlich problemfrei die Bühne betreten (der Autor hat einschlägige Erfahrung damit), dann lässt sich etwa folgendes sagen: Oft wird man mit 4 bis 6 Sitzungen im Abstand von z. B. je einer Woche auskommen, sofern nicht ausgiebigere Arbeit mit der Vergangenheit, etwa aufgrund unbewusster Konflikte, angezeigt ist. In jedem Fall sollte zudem eine Nachbesprechung nach dem Auftritt erfolgen – auch, um die geeigneten Trainingselemente für die selbständige Weiterarbeit mittels Selbsthypnose zu vereinbaren.
Motorische Komplikationen
Die Betrachtung des Extremen, Entgleisten und Problematischen erleichtert die Erkenntnis grundlegender Mechanismen, geeigneter Modellvorstellungen und Lösungswege: Das ist eine Tatsache, die sich nicht nur dem Autor während jahrelanger klinischer und Lehrtätigkeit als Psychologe in der Psychiatrie immer wieder aufgedrängt hat – das lehrt auch die Geschichte aller natur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Vergleichbares erweist sich uns auch im folgenden Problembereich.
Musiker kennen verschiedenste Beeinträchtigungen auf dem motorischen Feld, die immer wieder instrumentalpädagogische, manchmal gar ärztliche (4) Aufmerksamkeit beanspruchen. Viele dieser Beeinträchtigungen haben mit Verspannungen, manche dann auch mit offenkundigen Problemen der Bewegungssteuerung zu tun. Ein eindrückliches und zunehmend präsentes Thema ist dabei die «Musikerdystonie», die eine tätigkeitsabhängige fokale Dystonie darstellt – also eine Störung, die sich in unerwünschten, gewissermassen fehlgeleiteten Muskelkontraktionen äussert.
Es soll hier nun keineswegs versucht werden, einen flächendeckenden Abriss der Thematik oder eine systematische Übersicht aktueller empirischer Studien zu geben. Vielmehr sollen aufgrund entsprechender Erfahrungen zusätzliche und aussichtsreiche Wege der Intervention aufgezeigt werden, einhergehend mit einigen, auch kritischen, Anmerkungen zur Interpretation der bis anhin bekannten Befunde. Dies scheint umso eher gerechtfertigt, als die Forschung von einem hinreichenden klinischen und theoretischen Verständnis noch immer weit entfernt ist, was sich auch in den bisher ausgesprochen begrenzten Behandlungserfolgen niederschlägt.
Etwa 1% aller Berufsmusiker leiden im Laufe ihres Lebens irgendwann unter Musikerdystonie, zumindest in Deutschland (Spahn et al., 2011, S. 206). Grundsätzlich sind Musiker aller Instrumentengattungen betroffen. Dennoch wird sich die Darstellung hier auf die besonders häufige Handdystonie bei Pianisten beschränken. Zumindest die grundlegenden Gesichtspunkte sind indessen analog auf andere Instrumente sowie die Stimme anwendbar. Die auch von aussen gut sichtbare Symptomatik besteht bei Pianisten hauptsächlich in Fehlbewegungen – meistens der Finger der rechten Hand – am Instrument, welche den beabsichtigten Bewegungsablauf empfindlich stören. Dabei geht es um Bewegungsabläufe, die zuvor in hohem Tempo und fliessend beherrscht wurden, etwa das Skalenspiel. Bemerkenswert ist, dass diese Fehlbewegungen tätigkeits- und kontextabhängig sind, weshalb auch von «focal task-specific dystonia» (Frucht, 2015) gesprochen wird: So sind sehr oft in der Luft, auf der Tischplatte oder (seltener) gar auf einem einfachen Keyboard (ohne regelrechte Klaviermechanik) die korrekten Bewegungen ohne Weiteres möglich.
Betrachten wir ein Beispiel: Da haben wir also einen Klavierstudenten in einem höheren Semester vor uns, der bisher durchaus überzeugende pianistische Fähigkeiten erkennen liess – sowohl in musikalischer wie auch in technischer Hinsicht. Eines Tages klagt er über Schwierigkeiten beim Skalenspiel: Der Zeigefinger der rechten Hand würde sich beim Daumenuntersatz unwillkürlich einrollen, oder manchmal trete eine plötzliche Streckung des Mittelfingers auf. Es wird dem vorerst noch etwas sorglosen Lehrer bald klar, dass die Symptome nicht zu leugnen sind, sich zudem nicht bessern oder nur ganz vorübergehend. Dann wird es schlimmer, und Lehrer wie Kommilitonen schreiben das zum Teil äusseren Stressfaktoren zu, was der Student aber zumindest im Grundsätzlichen bezweifelt – und zwar zu Recht, wie die neueste Forschung zeigt (Ioannou et al., 2016). Es werden technische Übungen empfohlen, und Ansätze eines Vermeidungsverhaltens stellen sich ein: Es wird auf eher akkordische, jedenfalls skalenarme Stücke ausgewichen, die trotz zunehmender Tendenz zu unfreiem, verkrampftem Spiel besser gemeistert werden. Die Schwierigkeiten breiten sich indessen auf andere technische Figuren aus. Dann wird ärztliche Hilfe in Anspruch genommen, wobei übrigens die neurologische Untersuchung keinen pathologischen Befund ergibt. Nach erfolglosen Versuchen mit Physiotherapie, Alexandertechnik und weiteren alternativmedizinischen Verfahren erfolgt dann ein Wechsel zu einem anderen, hervorragenden Lehrer und bühnengewohnten Pianisten sowie eine längerdauernde psychoanalytische Intervention. Trotzdem wird allmählich – zum Erstaunen des ganzen Umfelds am Konservatorium – die Fortsetzung des Studiums fraglich. Zuletzt wird es dann abgebrochen.
Anmerkung 4
An dieser Stelle ist eine Warnung angebracht vor dem Versuch einer Suspension des Instrumentalpädagogischen durch das im engeren Sinne Therapeutische: Gerade die hier diskutierten Auffälligkeiten und Hemmnisse lassen sich – wie sich noch zeigen wird – als höhergradige Ausprägungen bzw. Fortsetzungen von Phänomenen verstehen, die zunächst durchaus den Lehrer etwas angehen (siehe auch die im Text dargestellte Kontinuumsthese). Der Instrumentallehrer begegnet ja als erster den Auffälligkeiten und wird feststellen, ob diese noch auf dem Feld der zu bearbeitenden spieltechnischen Probleme angesiedelt sind oder ob sich hier etwas verselbständigt hat, mithin krankheitswertig sein könnte, und dann ärztliche Aufmerksamkeit erfordert. Ob nun präventiv oder therapeutisch argumentiert wird: Nicht jedes spieltechnische Problem ist ein Fall für den Arzt. Aber jedes derartige Problem bleibt immer auch eine instrumentalpädagogische Aufgabe.
Ähnliche Erscheinungen sind, wie gesagt, auch bei Spielern anderer Instrumente zu beobachten. Die Befunde der nun schon jahrzehntelangen Forschung sind uneinheitlich und unklar und die angeordneten Therapien zeigen schwankende, im Ganzen unbefriedigende Ergebnisse. Was hat die Forschung – in Kürze – zur Thematik zu sagen?
Untersuchungen haben gezeigt, dass Spieler mit besonders hohem Übepensum häufiger dystone Symptome entwickeln (Rozanski et al., 2015), lassen aber eine einleuchtende Erklärung für diesen Umstand vermissen. Neurowissenschaftliche Studien haben einiges zu den neuronalen Korrelaten der Problematik zu berichten. Man spricht unter anderem von einem Inhibitionsdefizit (Pandey, 2015): Die muskulären Gegenspieler (Antagonisten) des aktuell zu bewegenden Fingers werden zu wenig gehemmt, so dass der Finger gleichzeitig gebeugt und gestreckt wird, was zu Versteifung führt. Mittels bildgebender Verfahren findet man eine Überlappung bzw. Verschmelzung der motorischen Areale z. B. der benachbarten Finger (Spahn et al., 2011, S. 208; Paulig et al., 2014). Das Areal in der motorischen Hirnrinde, welches den Zeigefinger steuert, bedient jetzt z. T. auch den Mittelfinger und so weiter. In therapeutischer Hinsicht hat man festgestellt, dass durch Anziehen dünner Latexhandschuhe das Problem – aber meist nur vorübergehend – gelindert werden kann: Das ist der sogenannte «sensory trick» (Paulig et al., 2014). Auch die sehr präzise, gezielt in manche Muskeln vorgenommene Injektion von Botox erbringt solche temporären Verbesserungen und ist heute die Hauptstütze (Pandey, 2015) der Standardtherapie, die sich zudem verschiedener pädagogischer Retrainingverfahren bedient. Aber selbst bei jahrelangem Retraining ist die Prognose ausgesprochen schlecht (Spahn et al., 2011, S. 214). Spielpausen oder auch Akupunktur, Physio- und Elektrotherapie, Massagen oder Psychotherapie haben sich auf lange Sicht als wirkungslos erwiesen (S. 213).
Betrachten wir nun das Ganze einmal aus klavierpädagogischer Perspektive. Der legendäre Pianist und Klavierpädagoge Josef Hofmann (1876–1957), langjähriger Direktor des Elite-Konservatoriums Curtis-Institute of Music und Lehrer Shura Cherkasskys, befand sich in ebenso erlauchter wie zahlreicher Gesellschaft, wenn er predigte: «Langsames Üben ist der einzige Weg zu geläufigem Spiel.» Derselbe Hofmann nun beschreibt in seinem vorzüglichen Buch Piano Playing (Hofmann, 1920) eindrücklich, zu welch schwerwiegenden Symptomen zu schnelles Üben führen kann: lähmungsartige Erscheinungen, Blockierungen von Fingern,oder motorische Reaktionen von Fingern, die sich aktuell gar nicht bewegen sollen usw. Er erklärt das Zustandekommen, natürlich damals noch ohne neurowissenschaftlichen Jargon, etwa folgendermassen: Bei raschen Wiederholungen komplizierter Figuren würden kleine Fehler, Ausrutscher und Unsauberkeiten unserer Aufmerksamkeit entgehen, das tonale Bild in unserer Vorstellung verwischen und bei fortgesetzter Praxis dieses schnellen Repetierens zu «unbestimmten Nervenkontakten» (S. 38 f.) führen, wodurch zunehmend unklar werde, welcher Finger sich bewegen solle. Und das Problem sei durchaus nicht in den Fingern, sondern ausschliesslich im Geist lokalisiert – in einer «Verwirrung des mentalen Konzepts» (S. 39). Wenn wir aus heutiger Sicht nun fragen wollten, wie sich diese Verunklärung der Fingerzuordnung im Gehirn abbilden könnte, so dürfte sich auch dem neurowissenschaftlichen Laien die Erinnerung an die oben erwähnte Überlappung der motorischen Areale im Gehirn aufdrängen. Diese Verschmelzung oder Überlappung der motorischen Areale wäre dann als ein Sediment der angehäuften Unsauberkeiten beim Üben verstehbar – ein Ergebnis also von ungünstigen Lernprozessen. Jemandem, der eingehende Erfahrungen mit fokalen Dystonien der Hand hat, könnte es einfallen, mit Blick auf eine elektroakustische Entsprechung, von einer «Verminderung des Fremdspannungsabstands», in klavierpädagogischer Hinsicht aber von einer «(wieder-) erworbenen Abhängigkeit der Finger» zu sprechen. Das altberühmte spieltechnische Anliegen einer möglichst weitgehenden Unabhängigkeit der Finger nämlich meint ja nichts anderes, als dies: dass beabsichtigte Fingerbewegungen möglichst wenig muskuläre Auswirkungen auf andere Finger haben sollen. Man könnte – wiederum elektroakustisch formuliert – sagen, dass ein grösstmöglicher Unterschied zwischen Nutzsignal und Störsignal (Rauschen sowie impulsartige Einstreuungen) (5) angestrebt wird. Und eben dieser Unterschied wird durch die erwähnte ungünstige Übepraxis verkleinert: «Rauschen» (ungerichtete Bewegungen, Verspannungen) und zunehmende «impulsartige Einstreuungen» (Fehlbewegungen) in den Signalweg werden beim allzu häufigen schnellen Spielen in Kauf genommen, bis daraus eine gewohnheitsmässige sensomotorische (6) Fehlhaltung oder «Fehlneigung» – also eine schädliche Wahrnehmungs- und Verhaltensdisposition – geworden ist, welche nun alle weiteren Aktionen am Instrument infiltriert und dadurch auch weiterhin geradezu eingeübt wird. Zwar können dann Massnahmen, die eine Veränderung der propriozeptiven Wahrnehmung beim Spielen bewirken – z. B. sensory trick und Botox-Injektionen (letztere zusätzlich mit Entlastung der Endstrecke durch Entspannung: eine Art «Rauschunterdrückung») – eine temporäre Verbesserung bringen: Man erinnere sich an die Kontextabhängigkeit (7) der Symptome. Aber zugleich wird so das eigentliche Problem (das ja im Kopf, nicht in den Fingern lokalisiert ist) der sensomotorischen Fehlneigung maskiert und dadurch der sorglosen Fortsetzung der ungünstigen Gewohnheit Vorschub geleistet: Es wird nämlich vorübergehend die Toleranz des Spielapparats gegenüber der sensomotorischen Fehlneigung erhöht. Er verträgt also jetzt etwas mehr Unachtsamkeit und Nachlässigkeit, bis man das an hör- und sichtbaren Symptomen merkt. Der Spieler glaubt dann, er sei auf dem Wege der Besserung, und wird weiterhin zu schnell und kinästhetisch unachtsam weiterpraktizieren, bis dann auch diese trickreiche Reserve ausgeschöpft ist. Dieses Verhalten ist nur allzu verständlich: Der Verzweifelte spürt Erleichterung, denkt «aha, endlich geht’s wieder» – und spielt drauflos wie ehedem. (8)
Wenn wir nun fragen, welche Möglichkeiten uns die Anwendung von Hypnose zur Bewältigung fokal-dystoner Probleme eröffnet, so sollten wir vorerst noch einmal vor Augen bringen, was denn korrigiert werden soll. Korrigiert werden soll die (kontextabhängige, task-spezifische) Verminderung des «Fremdspannungsabstands», die eben einer erworbenen Abhängigkeit der Finger entspricht. Dies bedeutet zugleich eine Korrektur der ungünstigen Wahrnehmungs- und Verhaltensdisposition, also der sensomotorischen Fehlneigung. Daraus folgt auch, dass grundlegende instrumentalpädagogische und -didaktische Gesichtspunkte zur Optimierung und Entwicklung der Spieltechnik – in Richtung einer zunehmenden Unabhängigkeit der Finger nämlich – auf demselben Kontinuum angeordnet sind, wie die Behebung dystoner Symptome. Wenn wir nun also den Signal-Rausch-Abstand vergrössern und somit die Unabhängigkeit der Finger fördern wollen, müssen wir zunächst die Hindernisse betrachten, die dem im Wege stehen. Im Wege steht all dies, was Wahrnehmung und Korrektur der Fehlspannungen und -bewegungen erschwert: Tempo, und kinästhetische Unachtsamkeit. Nun eröffnet aber die Hypnose Möglichkeiten veränderter, z. B. gesteigerter, Körperbewusstheit, die auch posthypnotisch genutzt werden können, wobei wiederum das Setzen von Ankern und die Anwendung selbsthypnotischer Verfahren nützlich sind. Dadurch können feinere Spannungen und Bewegungen rechtzeitig – im Entstehen – wahrgenommen, und dann unterlassen bzw. korrigiert werden. Das gelingt nur im langsamen Spiel – besonders im langsamen, fortlaufend achtsam korrigierenden Wiederholen dystonieträchtiger Figuren. Die Möglichkeit besonders lebhafter Vorstellung in allen Sinnesbereichen in Hypnose kann genutzt werden zum störungsfreien, korrekten Durchexerzieren in der Als-ob-Realität der Trance, wodurch die nachfolgende Arbeit am Instrument vorbereitet und erleichtert wird. Beim Spiel empfiehlt es sich, auf grösstmögliche Flexibilität („Gummifinger“, variable Kraft etc.) und besonnenes Anschlagen zu achten, bei weitestmöglichem Loslassen/Entspannen der übrigen Muskeln. Solches Vorgehen fördert einerseits die Kontrolle des anschlagenden Fingers (Nutzsignal), und reduziert gleichzeitig das Störsignal. Dabei können auch, bei wiederholt angeschlagener Taste, andere Finger auf Freiheit der Bewegung (mittels Leerbewegungen) getestet, und so in ihrer Gelöstheit gefördert werden, wobei gleichzeitig – also während des Spielens – die Spannung der übrigen Muskeln durch Anwendung einer selbsthypnotischen Rapidentspannungstechnik reduziert werden kann. Günstig ist es bei all diesen Übungen, die Dynamik etwa um mf anzuordnen – sich also meist zwischen p und f zu bewegen: Zu grosse Kraft verhindert die Wahrnehmung feiner Störsignale; bei sehr geringer Kraft hingegen ist der Unterschied, also der Abstand zur „Fremdspannung“, zwangsläufig sehr klein. Dennoch soll man auch diese Extremwerte gelegentlich mit einbeziehen. Entscheidend ist dabei immer das langsame Spiel und die wachsame Berücksichtigung der sensorischen Rückmeldung – mechanisches Durchspielen oder Wiederholen ohne solche kinästhetisch-achtsame, fortlaufende Korrektur ist kontraproduktiv! Bezüglich der erforderlichen Langsamkeit soll man keine panische, aber eine konsequente Haltung einnehmen. Es sind nicht allein abstrakte Fingerübungen, sondern gerade auch umgrenzte Passagen herauszugreifen, die bisher besonders von dystonen Symptomen betroffen waren, um diese dann geduldig und möglichst gründlich von allen dystonen Beimengungen zu reinigen – das dürfen auch technisch schwierige Stellen sein. Beharrlichkeit ist unumgänglich. Anders, als bei der Auftrittsangst, ist insgesamt mit Dutzenden von Sitzungen zu rechnen. Man wird zuhause grosse Selbstbeherrschung brauchen, um geduldig an der Vergrösserung des Signal-Rausch-Abstands zu arbeiten, und nicht in den Kardinalfehler zu verfallen, jeweils „auszuprobieren, ob’s wieder geht“ – die Versuchung ist immens. Solange das gestörte Gleichgewicht der Dystonie (denn das ist durchaus, leider, eine Form von Gleichgewicht!) noch dominiert, muss jede unnötige Aktivierung entsprechender Wahrnehmungs- und Reaktionsmuster unterbleiben – das entscheidet über Erfolg und Misserfolg. Das bedeutet unter anderem auch, dass man einige Monate lang nicht auftreten darf.
Bedenken übrigens, man würde sich auf den oben skizzierten Lösungswegen im Vielen verlieren, und sozusagen dauernd das Bewusstsein aufrechterhalten müssen, wie man die Schnürsenkel bindet, sind unangebracht. So, wie die einmal etablierten dystonen Reaktionen nur deshalb immer wieder auftreten, weil die ursprünglich vielen einzelnen Fehlsteuerungen sich durch Gewohnheit zu einer sensomotorischen Fehlhaltung vereinigt haben, die dann dazu neigt, sich selbst in der Spielpraxis aufrechtzuerhalten: Gerade so kann die kinästhetisch achtsame Korrektur an vielen Einzelbeispielen und -übungen sich durch Gewohnheit wieder zur – ökonomischeren, also naturnäheren, und dadurch eigentlich veränderungsresistenteren – gesunden Disposition vereinigen. Diese ökonomische, gesunde Haltung, ist eine wesentliche Basis jedes hervorragenden Instrumentalspiels. So kann es also ohne weiteres sein, dass man durch die geschilderten Massnahmen letztlich mehr erreicht, als nur den Rückbau des Problems: einen Zugang nämlich zu einer optimierten Spieltechnik und einem sich selbst erhaltenden, neuen Gleichgewicht, das sich durchaus auch wieder gegenüber gelegentlichem Forcieren und Vorausgaben (etwa beim Auftritt) als robust erweist. Man merkt es dann wieder, dass die Natur ja sehr wohl zur heilsamen Selbstorganisation neigt: Es fällt ihr im Grunde schwerer, in das gestörte Gleichgewicht der fokalen Dystonie zu verfallen, als sich im wiedererlangten gesunden Gleichgewicht zu erhalten.
Anmerkungen 5 bis 8
5 Es erscheint durchaus naheliegend, allgemeine Verspannungen und ungerichtete Muskelaktivitäten als eine Art „Rauschen“, die auffallenden dystonen Fingerbewegungen als „impulsartige Einstreuungen“ zu verstehen. Beides zusammen entspräche dann – auf dem Feld der Elektroakustik – etwa dem „Störsignal“ bzw. der „Fremdspannung“.
6 Motorische Aktionen – etwa jene am Instrument – werden kontrolliert, beeinflusst, verändert durch die blitzschnelle Berücksichtigung pausenloser Rückmeldungen sensorischer Art: visueller, akustischer, taktiler und insbesondere propriozeptiver. Letztere sind solche, welche die Wahrnehmung der Lage, der Kraft bzw. der Muskelspannung, sowie die kinästhetische Wahrnehmung im engeren Sinne (also jene der Bewegung) betreffen. Aufgrund dieses engen Zusammenwirkens spricht man folgerichtig von sensomotorischen Vorgängen.
7 Die Kontextabhängigkeit von motorischen Aktionen können wir uns in ganz alltäglichem Zusammenhang verdeutlichen: Wer kennt nicht die merkwürdige, plötzliche Hemmung des Gehapparates beim Betreten einer stillstehenden Rolltreppe? Die Umgebungsreize versetzen uns hier offenbar in einen anderen Rahmen, mit anderen Erwartungen und anderen Reaktionsmustern. Bewegt sich hingegen die Rolltreppe ganz normal, oder betreten wir eine normale Treppe, so tritt diese seltsame Hemmung nicht auf.
8 Der schon erwähnte Zusammenhang übrigens zwischen dem Übpensum und dem Auftreten fokaler Dystonien (Rozanski et al., 2015) bedarf m. E. einer dringenden Erläuterung: Ob und wie sehr ein grösseres Übpensum dystonieförderlich ist, hängt vom Grad der sensomotorischen Fehlneigung (als einer sogenannten Moderatorvariablen) beim Üben ab! Der von der Forschung gefundene Zusammenhang ist kein direkter, sondern ein indirekter: Es ist unbezweifelbar, dass langdauerndes – und vor allem: zu schnelles! – Üben die kinästhetische Unachtsamkeit, und somit das Übersehen von Verspannungen und kleinen motorischen Fehlhandlungen, fördert. Dadurch wird eine ungünstige Neigung etabliert, und zudem eine grundsätzliche Verspannung gefördert, wobei letztere ihrerseits die bewusste Wahrnehmung feiner sensorischer (v. a. kinästhetischer) Störsignale erschwert. Es ist ja nicht so, dass bei zu schnellem Spielen lediglich eine Sedimentation der unvermeidlichen Unsauberkeiten oder Fehlbewegungen stattfindet: Das würde einfach dazu führen, dass immer mehr unnötige Anschlagsbewegungen gemacht werden. Nein: Es ist ja ein sowohl auditives, wie auch ein visuelles und taktiles, halbbewusstes Wahrnehmen der Fehler da, begleitet von fortlaufenden Korrekturversuchen und Korrekturen irrtümlicher Korrekturen – ein fälschlich gestoppter Finger muss (gegen seinen noch aktiven Gegenspieler) verstärkt betätigt, ein anderer dagegen zurückgerufen werden etc. Durch die Überlagerung von Aktionen und Gegenkräften ist einerseits eine Erhöhung der Verkrampfungsbereitschaft – wohl auch überhaupt des durchschnittlichen Tonus der Muskulatur – zu erwarten, als eine Art Sediment derartiger Praxis. Andererseits wird das zahllos wiederholte agonistisch-antagonistische Zusammenwirken (beugen-strecken) gleichsam eingeübt – also habituell, und folglich im entsprechenden Zusammenhang automatisch ausgelöst, was zu immer häufigeren Fehlaktionen der Finger führt. Sobald eine solche ungünstige Neigung einmal etabliert ist, dann wird natürlich die exzessive Anwendung derselben – also ein hohes Übpensum – die motorischen Störungen verstärken.
Hans Ph. Pletscher
… ist lic. phil. Psychologe, als solcher seit 9 Jahren an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (derzeit mit Lehrauftrag) sowie in eigener Praxis tätig, hat nach dem Klavier- und Gesangsstudium (Lehrdiplom) als dipl. Musiklehrer SMPV über viele Jahre beide Fächer unterrichtet, ist zertifiziertes Mitglied ärztlich-psychologischer Hypnosegesellschaften (DGH, ISH) mit langjähriger Hypnoseerfahrung, Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Musik-Medizin (SMM) und Kolumnist bei den Schaffhauser Nachrichten.
Bibliographische Angaben
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