Werkbeiträge der Stadt St. Gallen

Die Stadt St.Gallen vergibt 2019 sechs Werkbeiträge in der Höhe von je 10‘000 Franken. Drei davon gehen an die Musiker Atilla Bayraktar, Davide Rizzitelli und Charles Uzor.

Davide Rizitelli und Atilla Bayraktar haben sich zum Musik-Projekt Vals zusammengetan. Foto: zVg

Davide Rizzitelli und Atilla Bayraktar gründeten im Sommer 2018 die Band «Vals», um mit neuen musikalischen Produktionsmethoden zu experimentieren. Sie arbeiten mit alten Tonbändern statt mit Computersequenzern, mit Kassetten und Tape Loops statt mit Samplern und lassen auch visuelle Aspekte stark miteinfliessen. Mit einem Werkbeitrag werde «das zukunftsweisende und nachhaltige Potential dieser Kombination aus nostalgischen und futuristischen Elementen gewürdigt», schreibt die Stadt.

Charles Uzor beschäftigt sich seit einiger Zeit mit seinem dritten Opernprojekt und thematisiert damit Leopold II., König von Belgien und Inhaber der Privatkolonie Kongo. Das Projekt sei, so die Stadt «in seiner Aufarbeitung des Kolonialismus und der Täter-Opfer-Bilder im Jetzt verankert» und habe das Potential, das Publikum durch Ambivalenz, Spannung und glaubhafte Motive zu fesseln.

Werkbeiträge erhalten von der Stadt zudem Tine Edel (Bildende Kunst), GAFFA (Dario Forlin, Wanja Harb, Linus Lutz, Lucian Kunz) (Angewandte Kunst), Priska Rita Oeler (Bildende Kunst) und Juliette Uzor (Tanz)

Fundgruben

Wenig bekannte Chorkompositionen aus Luxemburg, Frankreich und Deutschland, die den Vergleich mit «Blockbusters» nicht zu scheuen braucht.

Foto: London Wood Co. / unsplash.com

«Repertoire ist eine Lebensfrage.» Eric Ericson, die schwedische Chorlegende, lebte wie kein anderer dieses immer wieder zutreffende Credo und gab es überzeugend seinen Studierenden (zu denen auch der Autor dieses Textes gehören durfte) mit auf den Weg. Auf der Suche nach spannendem Repertoire treffen Chorleiterinnen und Chorleiter in den hier vorgestellten neuen Sammlungen mit Musik aus Luxemburg und Frankreich, wie auch den oratorischen Werken um J. S. Bach auf echte Fundgruben.

Die geistlichen Vokalwerke des in unseren Breiten relativ unbekannten luxemburgischen Komponisten Laurent Menager (1835–1902) sind in einer vorbildlichen Edition beim Verlag Merseburger erschienen, als Band 3 der gross angelegten Kritischen Gesamtausgabe innerhalb des Forschungsprojektes «Musique luxembourgeoise» an der Universität Luxemburg.

Menager studierte Mitte des 19. Jahrhunderts in Köln beim Chopin- und Mendelssohn-Freund Ferdinand Hiller. Seine Kirchenmusik steht in der Tradition der deutschen Spätromantiker und zeichnet sich aus durch eine schlichte Textbehandlung sowie Bevorzugung einer homofon-syllabischen Satzweise. Der Band enthält viele klangschöne, kurze und leicht ausführbare, deutsche und lateinische A-cappella-Werke (einige auch mit Orgelbegleitung), die als Kirchenlieder, Marienlieder und Tantum-ergo-Kompositionen ideal für die katholische Liturgie geeignet sind.

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In Französische Chormusik, erschienen beim Carus-Verlag, finden nicht nur Leiter katholischer Chöre ein stilistisch breit angelegtes geistliches Repertoire mit einigen bekannten Werken, aber vor allem vielen lohnenden Neuentdeckungen und Erstausgaben. Die Werke in lateinischer und französischer Sprache, viele auch mit Orgelbegleitung, sind grösstenteils nicht besonders schwierig, hauptsächlich vierstimmig mit weiteren kleinen Stimmteilungen und überkonfessionell wie auch konzertant gut einsetzbar. Der Herausgeber Denis Rouger, Chorleitungsprofessor in Stuttgart, konnte bei dieser liebevollen Zusammenstellung auf seine langjährige Erfahrung als Kapellmeister an den Pariser Kirchen Notre-Dame und La Madeleine zurückgreifen und ergänzt die Edition mit einer CD mit ausgewählten Werken, klangschön gesungen von seinem Kammerchor figure humaine.

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In den letzten Jahren bieten die Urtext-Ausgaben von Breitkopf & Härtel eine hervorragende Fundgrube für oratorisches Repertoire: seien es die Neuausgaben von «Blockbusters» wie Händels Messias (sehr empfehlenswerte Kritische Ausgabe mit vielen neuen Perspektiven, Partitur PB 5560) oder Mozarts c-Moll-Messe (einfühlsame Rekonstruktion von Clemens Kemme, PB 5562), aber auch neu zu entdeckende Werke um Bach herum, die häufigere Aufführungen verdienen würden.

Besonders hervorzuheben sind die Neuerscheinungen des böhmischen, von J. S. Bach hochgeschätzten Barockkomponisten Jan Dismas Zelenka. Sowohl sein Miserere c-Moll (ZWV 57, PB 5594), als auch seine Missa votiva (ZWV 18, PB 5577) sind Meisterwerke seines kirchenmusikalischen Schaffens für die Dresdner Hofkirche. Sie kommen mit einer kostengünstigen Orchesterbesetzung (zwei Oboen, Streicher und Basso continuo) aus und sind dennoch reich an Formen und Farben.

Eine wirklich lohnende Wiederentdeckung bieten die Werke von Johann Kuhnau, direkter Amstvorgänger Bachs an der Leipziger Thomaskirche. Sein neu erschienenes Magnificat mit weihnachtlichen Einlagesätzen ist eine echte Bereicherung für festliche Weihnachtskonzerte mit Solisten, Chor und Orchester (EB 32108).

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Zwischen den Passionen Bachs, deren Wiederentdeckung und Carl Loewes Das Sühnopfer des neuen Bundes steht das einstündige, nicht allzu schwer ausführbare Passionsoratorium Gethsemane und Golgatha von Friedrich Schneider aus dem Jahr 1838. Die textnah-plastische und süffige Vertonung erinnert mit opulenten Chören an Mendelssohn, enthält nur wenige Arien und bezieht die Gemeinde mit Passionschorälen ein. Eine interessante Bereicherung für Passionskonzerte, aber auch als Karfreitagsmusik im Gottesdienst bestens geeignet.

Laurent Menager: Geistliche Vokalwerke für gemischten Chor SATB, Männerchor TTBB, Singstimmen Solo und Duo, (=Kritische Gesamtausgabe Band 3), hg. von Alain Nitschké und Damien Sagrillo, Partitur, EM 2600, € 140.00, Merseburger, Kassel 2018

Französische Chormusik, 45 geistliche Chöre und Motetten von 15.–21. Jahrhundert, hg. von Denis Rouger, Chorleiterband mit CD, CV 2.311, € 27.90, Carus, Stuttgart 2018

Johann Kuhnau: Magnificat C-dur mit Einlagesätzen für die Aufführung zur Weihnachtszeit, hg. von David Erler , Partitur, PB 32108, € 54.00, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2018

Spannend wie ein Roman

Die aus dem Schwedischen übersetzte Biografie von Constanze Mozart ist überaus reichhaltig und fundiert.

Hans Hansen (1769–1828): Porträt der Constanze Mozart 1802 (Ausschnitt). wikimedia commons

Beim ersten Blättern im 1,2 kg schweren Buch erfreut man sich an den Abbildungen und bekommt mit den Jahreszahlen ab S. 601 und dem Schlusskapitel über die Deutung der Person Constanze schnell erstaunten Einblick in ihr reiches Leben. Dann liest sich das Buch als spannender Roman, künstlerisch gegliedert wie eine Oper in Ouvertüre, Zwischenspiel und vier Aufzüge mit vielen Querverweisen dank der durchnummerierten Kapitel – aber es ist ein wissenschaftliches Werk! Unzählige Zeitzeugen belegen authentisch alle Ereignisse, familiäre, kulturelle und politische Umstände von ihren Ahnen über ihre Jugend, ihre 10 Jahre mit Mozart, 29 Jahre mit Nissen und 16 Jahre als doppelte Witwe bis zu ihrem Tod mit 80 Jahren: Wie Mozart die Familie Weber in Mannheim kennenlernt, wie das Liebespaar sich gegen den Vater Leopold wehren muss, die grossartige Zusammenarbeit und die spannenden Reisen mit Mozart trotz vieler Schwangerschaften und Krankheiten, ihre sängerischen und pianistischen Fähigkeiten, der dramatische Tod Mozarts mit dem unauffindbaren Grab und dem Requiem, ihre berühmten Salons, ihr Kampf um die Herausgabe der Werke Mozarts, die Sorge um ihre zwei Söhne Carl und Franz Xaver Wolfgang, ihre unendlich fleissige Ehe mit Nissen in Kopenhagen, Wien und Salzburg, ihre Sorge für ihre Schwestern und ihre Schwägerin Nannerl, schliesslich der letzte Kampf, der zur Begründung des Mozarteums in Salzburg führte. Alle Quellen, die die Autorin in ganz Europa gesammelt hat, werden von ihr nach deren Glaubwürdigkeit bewertet. Es ist nicht nur eine Biografie von Constanze, sondern umfasst das volle Leben Mozarts. Das Buch ist eine Ehrenrettung der lange verkannten Frau.

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Viveca Servatius: Constanze Mozart. Eine Biographie, aus dem Schwedischen übersetzt von Krister Hanne, 653 S., Abb., 80 S. Anmerkungen, 28 S. Quellen und Literatur, 14 S. Personenregister, € 50.00, Böhlau, Wien u.a. 2018, ISBN 978-3-205-20596-8

Eine Fundgrube für einseitige Klassikhörer

In diesem Buch hat Roger Willemsen seine Empfindungen für Musik in den verschiedensten Formen festgehalten und lädt zum Mitentdecken ein.

Roger Willemsen 2014. Foto: blu-news.org / wikimedia commons

Wo Sie das Buch auch öffnen, jederzeit ist eine Überraschung möglich, besonders wenn Sie eher einseitig auf die «grosse klassische Musik» eingeschworen sind. Es gelingt dem multikulturellen Musikhörer, Autor und Moderator Roger Willemsen immer wieder, den Leserinnen und Lesern seine «Liebeserklärungen an die Musik» ohne fachmännischen Firlefanz wortmächtig «unterzujubeln», so dass man sich der jahrzehntelangen Einseitigkeit (mit Recht) umso stärker bewusst wird. In fünf Kapiteln werden Stimmungen, Porträts, Vergleiche «Klassik und Jazz» sowie Weltmusik und Zufälliges angeboten, unterschiedlich fokussiert, aber meist in einer Kombination von sparsam eingesetztem historischem Wissen und persönlichem Musikerlebnis. Seine Fixpunkte sind John Coltrane, der «das musikalische Universum vielleicht weiträumiger abgeschritten hat als irgendjemand vor oder nach ihm», und der Jazz in all seinen Facetten. Es geht ihm primär aber nicht um die Beschreibung der Musik, sondern um «die Erkundung der Gefühle» beim Anhören von Musik; und hierin steht ihm ein wundersam reiches Vokabular zur Verfügung. Aber alle, auch die differenziertesten Erkundungen sind nichts ohne den entsprechenden Klang; als ob Ihnen die Speisekarte blumig geschildert würde, Sie aber nichts davon zu essen bekämen. Nach der Lektüre von Willemsens Ausführungen kann man denn auch sofort nachprüfen, ob sie auch für einen selbst zutreffen: Fast alle erwähnten Titel sind auf YouTube anzuhören – übrigens (noch) gratis.

Die tollsten Entdeckungen sind möglich. In den 50 Klassik-und-Jazz-Kombinationen stellt Willemsen Stücke nebeneinander, die beim Erkunden der Gefühle interessante Gemeinsamkeiten freigeben: das Staccato-Spiel des Lennie Tristano etwa nach dem G-Dur-Allegro von Muzio Clementi oder die abenteuerlich-flinke Trompete in Cherokee von Arturo Sandoval, nachdem man Niccolo Paganinis Moto perpetuo angehört hat. Verblüffend auch das Nocturne mit dem Teddy-Charles-Quintett gegenüber dem dritten aus den fünf Orchesterstücken von Anton Webern. Mag sein, dass manche Vergleiche auf Unverständnis stossen oder Wiederholungen auffallen, dass man sich nicht «für einen Angriff auf das sentimentale Zentrum» bereitmachen will, dass manche emotional-bedingten Urteile etwas zu salopp wirken oder dass «Spott zum Gruss» für Rex Gildo überflüssig ist. Aber die Information zur «weitgehend vergessenen» Pianistin Jutta Hipp kommt gerade rechtzeitig in der gegenwärtigen Diskussion um die Revision des Urheberrechts: Kurz vor ihrem Tod hat jemand bemerkt, dass ihr 40 000 Dollar an Tantiemen für Schallplatten zustanden, die nach ihrem Karrierenende noch verkauft worden waren. Ob die heutigen Verbreitungsmedien auch über ein derartiges Langzeitgedächtnis verfügen?

Zum Schluss aber noch eine Merkwürdigkeit: Jacques Loussier, der für unsere Generation eine nicht geringe Bedeutung in Sachen «Horizonterweiterung» hatte, kommt nicht vor. Dabei war noch Anfang der Siebzigerjahre auf der Karteikarte «Loussier, Jacques – Play Bach» im Radiostudio Bern vermerkt, dass diese Schallplatten «nur nach Rücksprache mit dem Abteilungsleiter Musik» im Programm eingesetzt werden dürften. Klar: Als Willemsen (mit Jahrgang 1955) in Hörweite von Loussiers Bach-Spiel kam, war es keine Sensation mehr.

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Roger Willemsen: Musik! Über ein Lebensgefühl, 512 S., € 24.00; S. Fischer, Frankfurt 2018, ISBN 978-3-10-397383-9

Gestern kontrovers, heute harmlos

Der deutsche Musikjournalist Michael Behrendt erzählt in seinem neuen Buch von 70 Skandalsongs aus den letzten 100 Jahren.

Foto: Petra Bork/pixelio.de

Vor zwei Jahren widmete sich Michael Behrendt in seinem Buch I Don’t Like Mondays. Die 66 grössten Songmissverständnisse inkorrekt interpretierten Liedinhalten. Was der deutsche Musikjournalist vor allem dazu nutzte, die Lieder und deren Entstehungsgeschichte zu beschreiben. Demselben Muster folgt auch sein neues Werk Provokation! Songs, die für Zündstoff sorg(t)en. Auf 296 Seiten breitet Behrendt insgesamt 70 Lieder aus, die bei ihrer Veröffentlichung für Aufsehen und Aufruhr sorgten. Die laut Autor «bewusst unvollständige und subjektive» Auswahl beginnt mit Claire Waldoffs Herrmann heesst er aus dem Jahre 1914. Als die Öffentlichkeit im frivol-frechen Stück plötzlich einen Seitenhieb auf Herrmann Göring zu erkennen glaubte, führte dies für die Berliner Künstlerin zum Karriereende. Inhaltlich direkter und brisanter zeigte sich Billie Holidays Strange Fruit (1939), in welchem die US-amerikanische Jazzsängerin von den seltsamen Früchten erzählt, die an Bäumen der Südstaaten hängen. Eine unverblümte Anspielung auf mehr als 4700 aktenkundige Lynchmorde an Schwarzen zwischen 1882 und 1968. Beim Versuch, das Stück bei einem Konzert in Mobile, Alabama, anzustimmen, wurde Holiday aus der Stadt gejagt.

In seiner Publikation streift Behrendt vornehmlich altbekannte und heute harmlos wirkende Geschichten, die er wenig tiefschürfend zum Besten gibt: Da ist Dylan, der Widerstand erfährt, als er von der akustischen Gitarre zur elektrischen wechselt, und da sind auch The Who, die 1965 auf ihrer Single My Generation verkünden, es sei besser, jung zu sterben. Nicht zuletzt widmet sich das Buch auch dem Gangsta-Rap, der bisweilen nicht bloss zu gewaltverherrlichenden, sondern auch zu antisemitischen oder homophoben Tendenzen neigt, was der Autor in aller Schärfe verurteilt. Behrendts Haupterkenntnis, dass sich die Grenzen des Akzeptablen immer weiter verschieben, trifft zweifelsohne zu, ist jedoch alles andere als neu. Fazit: Die Lektüre von Provokation! Songs, die für Zündstoff sorg(t)en erweist sich als kurzweilig, ein Must ist sie nicht.

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Michael Behrendt: «Provokation! Songs, die für Zündstoff sorg(t)en», 296 S. € 20.00 wgb Theiss, Darmstadt 2019, ISBN 978-3-8062-3922-5

Fliessende Figuren, offene Fragen

Das Klavierstück von Johanna Doderer wird bestimmt von kleinteiligen Elementen im Stil der Minimal Music, zeigt aber auch emotionale Momente.

Johanna Doderer. Foto: Maria Frodl

Sie trägt einen berühmten Namen, der nicht nur in Österreich einen besonderen Klang hat: Johanna Doderer ist die Grossnichte von Heimito von Doderer, dem Autor des Romans Die Strudelhofstiege und anderer literarischer Meisterwerke. Auch sie kann bereits auf ein beachtliches Œuvre zurückblicken. Die 1969 in Bregenz geborene Komponistin schrieb zahlreiche Werke von Kammermusik über Symphonisches bis hin zur grossen Oper. An Anerkennung und Resonanz fehlt es nicht. Johanna Doderer durfte schon bedeutende Preise und Auszeichnungen entgegennehmen. Und zur Hundertjahrfeier der Republik Österreich 2018 spielten gar die Wiener Philharmoniker in der Staatsoper Teile aus ihrer zweiten Sinfonie.

Eines ihrer jüngsten Werke lässt einen jedoch etwas ratlos zurück. Alles fliesst für Klavier solo (DWV 109) ist im Auftrag des Internationalen Beethoven-Klavierwettbewerbs entstanden und wurde im Rahmen der Eröffnung uraufgeführt. Der Titel soll laut Doderer das Ineinanderfliessen der musikalischen Themen widerspiegeln. Ob auch Impulse aus der Musik Beethovens eingeflossen sind, ist schwer zu sagen. Es gibt ein paar pathetische Momente, aber im Allgemeinen dominieren kleinteilige Begleitfiguren, die im Stil der Minimal Music wiederholt werden. Sie verdichten sich gelegentlich zu emotionaleren Steigerungen, meist aber tritt die Musik an Ort. Dies, obwohl fast immer ein rhythmischer Fluss vorherrscht.

Die pianistische Faktur ist uneinheitlich: Geschickt gesetzten virtuosen Kaskaden stehen banale Passagen gegenüber, die seltsam unbeholfen daherkommen. (Takt 173 z. B. ist nur für Personen mit langen Armen einigermassen spielbar.) Auf der letzten Seite steht eine Anmerkung, wie sie auch von Beethoven stammen könnte: «… mit innigster Empfindung». Kurioserweise ist da auch ein Ausbruch im dreifachen Forte zu bewältigen. Ist da etwa Ironie im Spiel?

Das Stück endet – wie Beethovens Klaviersonate mit der gleichen Werknummer – in reinem E-Dur … und lässt alle Fragen offen.

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Johanna Doderer: Alles fliesst (Everything flows) DWV 109, für Klavier solo, D. 01 699, € 14.95, Doblinger, Wien 2018

Musikalische Porträts aus Frankreich

Jean-François Dion hat den Exponenten der französischen Trompetenschule rund um Maurice André ein Denkmal gesetzt.

Foto: Cecile Hournau / unsplash.com

Unzweifelhaft: Die französische Trompetenschule mit ihrem Zugpferd Maurice André hat viele Generationen von Trompeterinnen und Trompetern geprägt wie kaum eine andere. Auch in meiner Jugendzeit war der Grand seigneur de la trompette omnipräsent: Er beherrschte die klassische Trompetenwelt fast im Alleingang, so wie Miles Davis den Jazz prägte.

Es wundert daher nicht, dass Jean-François Dion die Zeit für reif erachtet hat, den Exponenten dieser französischen Trompetenschule eine Hommage zu widmen. In 15 kleineren Einzelstücken zeichnet er ein musikalisches Bild der Widmungsträger (von Roger Delmotte über Bernard Soustrot bis Antoine Curé). Und wer die Meister gut kennt, der kann sich beim Durchspielen dieser manchmal doch etwas etüdenhaft wirkenden Kleinode eines kleinen Schmunzelns kaum erwehren. Die barocken Zitate bei Maurice André einerseits, die aleatorischen Elemente und Dämpferwechsel bei Antoine Curé andererseits sind wohl etwas plakativ geraten – der Beginn von Guy Touvron hingegen erinnert subtil an das Klappern der Mühle vor seinem Haus – ein hübscher Beweis für die Vertrautheit des Komponisten mit seinen Kollegen. Schön auch, dass jeder Maître im Anhang kurz mit Foto und Biografie vorgestellt wird – schade jedoch, dass Grössen wie Pierre Thibaud oder Eric Aubier fehlen, die es nicht minder verdient hätten, etwas beweihräuchert zu werden.

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Jean-François Dion : La trompette française – 15 portraits musicaux, für Trompete solo, TP 348, Fr. 20.00, Editions Bim, Vuarmarens

Unvorhersehbare Wendung

Mit «ad aeternam» für Violoncello und Klavier ehrt Daniel Schnyder seinen früh verstorbenen Musikerkollegen Daniel Pezzotti.

Daniel Schnyder. Foto: Anja Tanner

Im Oktober 2017 verstarb allzu früh nach schwerer Krankheit der Zürcher Cellist Daniel Pezzotti, eine ausserordentlich vielseitige Musikerpersönlichkeit: Nach dem mit Auszeichnung abgeschlossenen Studium am Konservatorium Zürich bei Claude Starck wurde er 1986 Mitglied des Orchesters der Oper Zürich (heute: Philharmonia Zürich), spielte in zahlreichen Kammermusik-Formationen und Ensembles und entfaltete zudem eine breitgefächerte solistische Tätigkeit. Sein Repertoire umfasste die gesamte Cello-Literatur vom Barock bis hin zur zeitgenössischen Musik. Als begeisterter Jazz-Performer bekannt, vermittelte er als Dozent des Fachs Jazz-Cello an der Zürcher Hochschule der Künste zahlreichen Musikstudierenden inspirierende Impulse auf diesem Gebiet.

Der in New York lebende Schweizer Jazz-Saxofonist und Komponist Daniel Schnyder hat oft mit Daniel Pezzotti zusammengearbeitet und aus Anlass von dessen Tod ein einfühlsames Stück für Cello (Viola) und Klavier komponiert. Schnyder schreibt im Vorwort der Ausgabe: «Die Musik nimmt Bezug auf den ersten Vers der Kantate Komm süsser Tod von J. S. Bach. Ad aeternam widerspiegelt das Lied des Lebens, das sich stetig verändert und das plötzlich entgegen aller Erwartungen einen anderen Weg nimmt, als wir denken.»

Die Aufnahme der Uraufführung von ad aeternam in der Londoner Wigmore Hall mit Christoph Croisé, Cello, und Alexander Panfilov, Klavier, ist auf Youtube verfügbar:

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Daniel Schnyder: ad aeternam – In memoriam Daniel Pezzotti, für Violoncello (Viola) und Klavier, GM-1939, Fr. 16.80, Edition Kunzelmann, Adliswil 

Würdige Fortsetzung

Mit dem Second Livre setzt Denis Herlin die sorgfältige Neuausgabe von Couperins «Pièces de clavecin» fort.

François Couperin. Stich von Jean-Charles Flippart nach André Boys 1735. Quelle: Bibliothèque nationale de France, département Musique, Est.Couperin002, Domaine public

Denis Herlin hat 2016 eine Neuausgabe der vier Bücher von François Couperins Pièces de Clavecin begonnen. Nun ist das Second livre (1717) erschienen, das er aufgrund der neuesten Quellenfunde und Forschungsergebnisse und mit derselben Sorgfalt wie schon das erste Buch (siehe meine Rezension in der SMZ 6/2017, S. 19) ediert hat. Der Band enthält ausserdem zu Recht die Huit Préludes und die einzelne Allemande aus Couperins Lehrwerk L’Art de toucher le Clavecin (1716/1717), da, über die chronologische Nähe der beiden Drucke hinaus, manche Querbezüge zwischen ihnen bestehen.

Auch hier wurden in voller Breite die handschriftliche Überlieferung, die vielen Nachdrucke und Neuauflagen sowie die zeitgenössischen Bearbeitungen berücksichtigt. Vorwort und Kritischer Bericht geben Auskunft nicht nur über sämtliche verfügbaren Quellen und diskussionswürdigen Textstellen, sondern auch über die Entstehungsgeschichte, einige Werktitel, geeignete Instrumente und aufführungspraktische Probleme. Ausserdem ist der Herausgeber der Seitenverteilung des Originaldrucks gefolgt, was zwar zu einer weitgehenden Vermeidung (unpraktischer) Wendestellen beiträgt, im kleineren Format der Neuausgabe aber bisweilen zu einem Notenbild führt, bei dem alles wie im Kleinstich wiedergegeben erscheint. Wer dies seinen Augen zumuten will, sei lebhaft zum Kauf dieser Ausgabe ermuntert, wer das nicht will, sollte sie wenigstens der englischen und französischen Texte wegen (Critical Commentary nur englisch) anschauen.

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François Couperin: Pièces de Clavecin. Second livre (1717) mit 8 Préludes und 1 Allemande aus «L’Art de toucher le Clavecin» (1716/1717), hg. von Denis Herlin, BA 10845, € 46.95, Bärenreiter, Kassel 2018

Rhythmisch beschwingte Barcarolle

Théodore Gouvys «Sérénade vénitienne» ist eine vergessene Perle der Bratschenliteratur.

Foto: Marco Ceschi / unsplash.com

Théodore Gouvy (1819–1898), in Goffontaine bei Saarbrücken, im Grenzland zwischen Preussen und Frankreich, geboren, wirkte in beiden Ländern als Komponist und Dirigent. Er fand in Deutschland besonders durch seine sinfonischen, in Frankreich durch seine kammermusikalischen Werke Anerkennung.

Die Sérénade vénitienne für Viola und Klavier, 1875 dem belgischen Violinisten Louis van Waefelghem gewidmet, ist ein angenehm, aber rhythmisch anspruchsvoll zu spielendes Vierminutenstück in e-Moll, endend in strahlendem und sanft ausatmendem E-Dur. Über harmonisch reich wechselnden Sechzehntelwellen des Klaviers seufzt die Bratsche. Mit nachschlagend oder auftaktig einschwingenden Zweiunddreissigsteln singt sie in grossen Bögen, die dynamisch und agogisch sorgfältig ausdifferenziert sind. Der Tonraum bleibt im Bereich der unteren drei Saiten und ist am besten in der halben bis dritten Lage darzustellen.

Die Ponticello-Edition – gegründet 2009, spezialisiert für Streicher- und insbesondere Celloliteratur – verdient grosses Lob, dass sie diese vergessene Perle zugänglich gemacht hat.

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(Louis) Théodore Gouvy: Sérénade vénitienne für Viola und Klavier, hg. von Wolfgang Birtel, PON 1034, € 10.95, Ponticello Edition, Mainz 2018

Auf Brahms’ Spuren

Richard Lane und John Frith habe Trios für Violine, Horn und Klavier geschrieben, die vom wohl bekanntesten Werk für diese Besetzung inspiriert sind.

Granitwürfel mit vier Bildnissen von Johannes Brahms vor der Laeiszhalle in der Hamburger Neustadt. Künstler: Th. Darboven. Foto: Claus-Joachim Dickow/wikimedia commons 

Spricht man von Horntrio, denkt man unverzüglich an das bekannte Opus 40 von Johannes Brahms, welches György Ligeti in den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts anregte, das für sein Schaffen bahnbrechende Trio Hommage à Brahms zu komponieren. Auch versuchten immer wieder Komponisten der «gemässigten Moderne», sich in Brahms’ Fussstapfen zu bewegen. Es waren dies neben Charles Koechlin mit seiner verträumten Kostbarkeit Quatre petites Pièces op. 32 der Engländer Lennox Berkeley und der Australier Don Banks, die für dieses Gattung Bereicherndes beisteuerten.

In der Edition Bim, dem verdienstvoll umtriebigen Westschweizer Verlag für Blechbläsermusik, ist ein Trio für Violine, Horn und Klavier des Amerikaners Richard Lane (1933–2004) erschienen, welcher eine ganze Reihe von Werken für Orchester, Blasorchester und Solostücke für Blasinstrumente geschrieben hat. Das elfminütige Trio gefällt durch bewegtes Wechselspiel der drei Instrumente und freie lyrische Teile im Adagio des zweiten Satzes.

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Der Engländer John Frith bringt seine Liebe zum Brahms-Trio in sein neues Werk für dieselbe Besetzung ein. Als immer noch ausübender Hornspieler weiss er um die klanglichen Vorzüge seines Instruments, die er hier im bestklingenden Register zu den anderen Instrumenten setzt.

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Richard Lane: Trio, für Violine, Horn und Klavier, Partitur und Stimmen MCX75, Fr. 25.00, Editions Bim, Vuarmarens

John Frith: Horn Trio, für Violine, Horn und Klavier, E717, £ 17.95, June Emerson Wind Music, Ampleforth

Von Heuliedern und der Niemandsrose

Verdichtete Formen, oft ausgehend von einfachem Material und hinführend zu exaltierten Ausbrüchen, kennzeichnen die Kompositionen auf der neuen Trio-CD von Iris Szeghy.

Foto: Pavel Kastl

Mit einer rasch auffahrenden und wieder absinkenden Geste beginnt die Sängerin, die Klarinette imitiert sie, und so geht das weiter, im Wechsel. Innert kurzer Zeit verändert sich die Geste, die Stimmen verschränken sich, reiben sich aneinander, steigern sich weiter, bis sie auf einem höchsten Ton hängenbleiben. Kurze leise Repetitionen folgen und zum Schluss ein schlichtes slowakisches Volkslied, ein Heulied. So zu hören im Meadow Song von Iris Szeghy. Die seit 2001 in Zürich lebende und arbeitende slowakische Komponistin versteht es, ausgehend von solch einfachem Material – das Imitieren ist ja eigentlich urältestes Musikhandwerk – eine schlüssige Form auf engem Raum zu entwickeln. Aufgrund derartiger Erfahrungen habe ich sie einmal vor vielen Jahren eine Meisterin der kleinen Form genannt, was sie nicht unwidersprochen liess: Sie könne auch grosse Abläufe gestalten. Sei’s drum. Was die episch ausladenden Werke angeht, so finden sie sich hier nicht, auf dieser CD, die sie mit dem slowakischen Trio Sen Tegmento aufgenommen hat. Die Sopranistin Nao Higano, der Klarinettist Martin Adámek und die Pianistin Zuzana Biščáková interpretieren ungemein schön. Nur die deutsche Aussprache wirkt manchmal etwas holprig.

Belegen lässt sich hier aufs Schönste, wie Szeghy die Musik verdichtet und knapp formuliert, ohne Innovationszwang, ausgehend von dem vertrauten Material. Manchmal beginnt sie mit schlichten, ja fast banalen Klängen und steigert sie dann ins Extrem, in theatralisch exaltierte Gesten hinein. Aus einem dumpfen Stampfen etwa entwickelt sich das Klavierstück Perpetuum mobile bis zu grellen Kaskaden. In Folclorico wird eine langsame Klarinettenkantilene von Orientalismen des Klaviers kontrastiert, die auch da wieder in heftigen Ausbrüchen explodieren. Das hat seine Tücken, denn so droht das eingangs Gesetzte desavouiert zu werden, etwa wenn sich einer der «Hesse-Splitter» (nach Fragmenten von Hermann Hesse) sarkastisch, wo’s um die Unsterblichkeit geht, in ein lautes Lachen verzerrt. Nicht alle Stücke entgehen so der Plakativität. Das ist die Gefahr einer nicht nur andeutenden, sondern überdeutlichen Darstellung.

Besonders eindringlich ist die Vertonung von Paul Celans Psalm für Stimme allein. Zwischen Flüstern, Wispern, Sprechen und dunklem Gesang entfaltet sich das so bewegende, nichtslastige Gedicht, blüht für einen Moment auf, wie die zentrale «Niemandsrose» – und versinkt wieder. Die Anrufung des Grossen Bären Ingeborg Bachmanns beschliesst die CD: In der Totenstille flattert die Musik leicht und ernst aus.
 

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Psalm (Ausschnitt)
zupfen

Im Osten zeichnete die Beherrschung von Zupfinstrumenten Weise aus, hier im Westen erfreut sich die Ukulele wachsender Beliebtheit. Unser selektiver Streifzug durch die Familie der Zupfinstrumente schaut auch ins Atelier eines Lautenbauers.

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Focus

Nach unten zupfen heisst «pi», nach oben «pa»
Die Pipa-Virtuosin und Komponistin Jing Yang im Interview

Privilégier la souplesse à l’orthodoxie
Maurice Ottiger est l’un des rares fabricants de luth en Suisse

Entdeckungen in den Randgebieten
Unübliche Zupfinstrumente an Musikschulen

De l’arc à l’archiluth
Une brève histoire des cordes pincées 

… und ausserdem

RESONANCE


Gepflegtes am Jazzfestival Bern

Durchmischte Szenen und Generationen
Taktlos-Festival in Zürich

Kecker  Geist in der Einöde
3. Fröhlich-Tag in Brugg

Heidelberger Frühling als Versuchslabor

Komponieren ohne Netz
Nachruf auf Hans Wüthrich

Jacques Cerf déploie ses ailes vers l’« Orient céleste »

Der Traum von einem «Salzburg» Osteuropas
Das Festival Odessa Classics

Besuch aus der Vergangenheit
Festival Alte Musik in Zürich

Carte blanche à William Blank

CAMPUS

Im Studium mitten in der Praxis
Aus den Musikhochschulen wachsen Ensembles hervor

La contrebasse en groupe stimule les neurones — selon une étude
 

FINALE


Rätsel
— Pia Schwab sucht


Reihe 9

Seit Januar 2017 setzt sich Michael Kube für uns immer am 9. des Monats in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb.

Link zur Reihe 9


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Kategorien

Digitalisierung und Musikhochschule

Einst hiess es, dass die Digitalisierung die Musikbranche zerstöre. Inzwischen ist klar, dass die Digitalisierung diese auch wieder aufgebaut hat. Welche Rolle spielen die neuen Technologien in der Ausbildung? In dieser und den folgenden Nummern wird dieser Frage nachgegangen, angefangen mit Eindrücken von der Kalaidos Musikhochschule und der Hochschule für Musik FHNW Basel.

Ingo Laufs — Man kann sich wahrhaftig nicht darüber beschweren, dass der Begriff «Digitalisierung» zu selten im täglichen Sprachgebrauch genutzt wird. Welche Einsatzmöglichkeiten, welche Entwicklungen und welche Vorteile sind für das Studium an einer Musikhochschule durch Digitalisierung vorstellbar? Dieser Frage ging die Kalaidos Musikhochschule nach, indem sie den gesamten Komplex Musiktheorie sozusagen auf den digitalen Prüfstand stellte.

Im Verlauf einer langen Arbeitsphase entstand so für die Einzelbe-reiche der Musiktheorie (Tonsatz, Gehörbildung, Höranalyse und Stilkunde, Formenlehre und Analyse, Akustik, Instrumentenkunde und Musikgeschichte (mit den Adaptionen im Jazz/Pop-Bereich)) ein System, das mehrere Unterrichtsarten in sich vereinigt. So besteht jeder der genannten Bereiche aus Unterrichtseinheiten in verschiedener Gewichtung mit unterschiedlicher ECTS-Anrechnung, und jede Unterrichtseinheit besteht aus einem Komplex aus Einzelunterricht, Gruppenunterricht, Unterricht mit Dozierenden und Unterricht ohne Dozierenden sowie einem relativ hohen Anteil an Selbststudium.

Wichtige Kontrolle

Der Unterrichtsstoff steht den Teilnehmerinnen und Teilnehmern für eine bestimmte Zeit über das hauseigene Kommunikationsportal zur Verfügung; so können die Studierenden ihn immer wieder abrufen und als Hilfestellung nutzen. Der grösste Teil dieser beschriebenen Situation wird online vermittelt, auch Prüfungen werden auf diese Art und Weise möglich. Studierende können also demnächst entspannt im heimischen Wohn- oder Arbeitszimmer ihren Theorieunterricht erhalten und ihre Prüfungen schreiben – was keineswegs gleichbedeutend mit fehlender Kontrolle ist. Mit Kontrolle ist das Nachvollziehen der Lernfortschritte gemeint, das Gewährleisten des Fortschritts in der Bewältigung des Lehrstoffes, also eine Betreuung, welche über das Unterscheiden zwischen «richtiger» und «möglicher» oder gar «falscher» Lösung hinausgeht. Denn letzteres lässt sich technisch leicht lösen, indem man die möglichen Lösungen dem Lernenden einsehbar macht. Hingegen ist ein kommentiertes Feedback nötig, richtig und falsch muss innerhalb eines ästhetischen Bezugsrahmens verstanden werden können. Gemeinsam mit einigen ihrer Kooperationspartner wird die Kalaidos Musikhochschule diese bisher nur mit einzelnen, freiwilligen Studierenden getestete Version ab April testen.

Eine weitere, sicher zu diskutierende Einsatzmöglichkeit digitaler Medien wäre die Anerkennung von Videoaufnahmen bzw. Links zu Youtube-Aufnahmen als Zulassungsprüfung im künstlerischen Bereich. Sicher gibt es viele Vorteile bei der physischen Präsenz, den Live-Klang, die Persönlichkeit. All das ist deutlicher wahrnehmbar, wenn man sich gegenüber sitzt. Aber ist es im Zeitalter der Digitalisierung und der Globalisierung nicht auch erlaubt, nicht nur über die Fragen der Nutzbarmachung dieser Entwicklungen für das Studium an einer Musikhochschule nachzudenken, sondern sie anzuwenden, sei es auch nur versuchsweise? Wer nicht probiert, kann nicht ablehnen. Und so hat sich die Kalaidos Musikhochschule, die schon lange Aufnahmeprüfungen via Youtube akzeptiert, wenn sie von Studierenden aus entfernten Ländern eingereicht werden, entschlossen, auch in ihrem Stipendienwettbewerb diese Form der Bewerbung und Teilnahme zu akzeptieren.

Blended Learning

Somit sind die Chancen der Digitalisierung für eine Musikhochschule deutlich. Die Digitalisierung ermöglicht zum einen das anschauliche Aufbereiten der Lehrinhalte: Bild, Ton und Analyse können zum einen zusammengebracht und die zu lehrenden/lernenden Aspekte fokussiert und an den Beispielen pointiert aufbereitet werden. Zum anderen können diese Inhalte über die Dauer einer traditionellen Unterrichtsstunde hinaus dauerhaft einsehbar bleiben. So wird die Zeit des Lernens verlängert. Das als «Blended Learning» bezeichnete Lernen kann also zu einer vertieften Form des Lernens führen.

Natürlich sind auch die Risiken zu beachten. Diese bestehen in einer allzu menschenfernen, quasi ausschliesslich auf das technisch Realisierbare reduzierten Darbietungsform der Lehrinhalte. Das Risiko besteht darin, den Menschen – und damit die Lehrperson – überflüssig machen zu wollen. Das wird nicht gelingen. Die Materie ist zu komplex, ferner ist die Lehrperson ein Bezugspunkt, welcher in seiner Funktion nicht zu unterschätzen ist. Die Lehre bekommt ein «Gesicht». Häufig – insbesondere bei Kreativaufgaben – entstehen Probleme, welche über das «Realisieren von Tönen» hinausgehen. Hier ist die persönliche Ansprache und Betreuung unumgänglich.

Technische Voraussetzungen

Die Studierenden müssen selbstverständlich auch über passende technische Voraussetzungen verfügen. Dies hängt von der Aufmachung der digitalen Medien ab. Es gibt zum Beispiel käuflich zu erwerbende Programme im Bereich Gehörbildung (Earmaster), für welche den Hochschulen Gruppenlizenzen vergeben werden. Hierfür ist ein Rechner mit Kopfhörer notwendig, zum Thema »Vom Blatt Singen» zusätzlich ein Mikrofon. Für die meisten Fälle sollte aber die Grundausstattung genügen, also: Internetzugang, Rechner mit Audio- und Videofunktion, Emailzugang, denn das Lehren muss mit jenen Möglichkeiten gelingen, über welche die Studierenden meistens verfügen, ohne sich in Unkosten stürzen zu müssen. Die Hochschulen ihrerseits benötigen Lehr-Lernplattformen, welche einen Zugriff den Studierende den Zugriff auf die Inhalte erlauben.

Ingo Laufs

… ist Fachbereichsleiter und Dozent für die Fächer Tonsatz, Analyse, Formenlehre, Arrangement, Komposition an der Kalaidos Musikhochschule.

Elke Hofmann — Der innovative Einsatz digitaler Technologien in der Lehre ist zum Attraktivitätsmerkmal einer Hochschule geworden. Die Verwirklichung des alten Traums von einer zeitlichen und örtlichen Flexibilisierung von Lehre ist ein Segen überall dort, wo Wissen möglichst individualisiert an viele Menschen vermittelt werden soll. Gleichzeitig bedeutet sie immense Herausforderungen, sowohl für die Entscheidungsträger über Investitionen im Umfeld rasant veraltender Technologien, als auch für die Lehrenden, die ihre medialen und didaktischen Kompetenzen den Anforderungen der jungen Studierendengeneration fortlaufend anpassen müssen.

Der digitale Wandel birgt für die tradierten, hoch individualisierten Lehrformen professioneller Musikausbildung andere Fragestellungen und Herausforderungen als für die typisch universitäre Wissensvermittlung.

Selbst mit Hilfe modernster digitaler Technologien lässt sich physische Präsenz, unerlässlich für die Vermittlung der künstlerischen und technischen Essenz der Beherrschung eines Instruments bzw. der Stimme oder des kreativen Prozesses einer Improvisation oder Komposition, bisher noch nicht in befriedigender Form übertragen. So scheint gerade im Kerngeschäft einer Musikhochschule, dem künstlerischen Einzelunterricht und den begleitenden Kleingruppenunterrichten, die verlockende zeitliche und örtliche Flexibilisierung derzeit (noch) nicht erreichbar. Für die Wahl des Studienortes bliebt bisher die Anziehungskraft der Hauptfachlehrkraft, zusammen mit der Attraktivität des Campus in Hinblick auf weitere praktische Erfahrungen im gewählten Hauptfach oder dessen Spezialisierung, ausschlaggebend.

Im Rückblick auf die Entwicklungen der letzten beiden Jahrzehnte scheint es eine Frage der Zeit, dass sich auch dieses Paradigma ändern wird; die bereits bestehenden Technologien werden europaweit intensiv beforscht und generieren schon jetzt eine neue Kultur der musikalischen Interaktion.

Digitale Medien prägen längst den Alltag an der Hochschule für Musik FHNW/Musik-Akademie Basel: Studierende und Lehrende spielen aus digital repräsentierten Noten auf Tablets, verwenden Online-Bibliothekskataloge und wissenschaftliche Rechercheportale und machen die eigene musikalische und/oder wissenschaftliche Arbeit in Webpräsenzen oder Social Media mittels digitaler Video- und Audioaufnahmen oder Live-Streaming sicht- und hörbar.

Innerhalb der tradierten Lehrformen entwickeln Lehrende digitale Werkzeuge für die Vermittlung spezieller Inhalte (z.B. Intonation/Stimmungssysteme) und erproben digital gestützte Prüfungsformate; Pädagogikstudierende beschäftigen sich mit der Didaktik von Lehrvideos. Learning Management Systeme und kollaborative digitale Gruppenräume ermöglichen neue Qualitäten in der Nutzung der Kontaktzeit.

Digitale Zukunft

Als eine von neun Hochschulen des Verbundes der Fachhochschule Nordwestschweiz befindet sich die Hochschule für Musik FHNW/Musik-Akademie Basel zudem in einer Umgebung, die sich mit der Überführung der Lehre in die digitale Zukunft intensiv auseinandersetzt. So wird die FHNW in den kommenden Jahren für ihre neun Hochschulen spezielle Räume einrichten, die ihren Lehrenden Ausprobieren digital unterstützter Lehrformen ermöglichen, Impulse zur Entwicklung digitaler und medienpädagogischer Kompetenzen geben, eine Plattform zur Präsentation innovativer Lehre entwickeln und den Diskurs über die Idee von der Zukunft exzellenter Lehre fördern. Hierbei hat sie den Anspruch, den unterschiedlichen Bedürfnissen der Teilhochschulen gerecht zu werden und gleichzeitig interdisziplinäre Synergiepotentiale zu nutzen. Für die Umsetzung individueller Projekte bietet die FHNW den Lehrenden kompetetitive Anreize; so konnten David Mesquita und Florian Vogt von der Schola Cantorum Basiliensis unserer Hochschule eine der ersten Förderungen des Lehrfonds für ihr Projekt «Singing upon the (note)book» gewinnen, in dessen Rahmen eine interaktive Website zu bestimmten Aspekten der historisch orientierten Gehörbildung entwickelt wird.

So sieht sich die Hochschule für Musik FHNW/Musik-Akademie Basel Teil eines umfassenden Prozesses, der die bewährte Exzellenz ihrer Lehre mit Umsicht in eine erfolgreiche Zukunft führen wird.

Elke Hofmann

… ist seit September 2018 Beauftragte für Digitalisierung an den drei Instituten der Hochschule für Musik FHNW Basel.

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