Spielpraxis und Schulmusikwissen

Der «Leitfaden Bläserklasse» aus dem Helbling-Verlag verbindet das Erlernen eines Instruments mit schulischen Inhalten. Es geht von wöchentlich drei Lektionen aus.

Foto: Bruno Pego / unsplash.com

Das Lehrerhandbuch zum neuen Lehrmittel aus dem Verlag Helbling Leitfaden Bläserklasse kommt mit dem gewichtigen Umfang von mehr als 450 dicht bedruckten Seiten daher. Das Lehrwerk beeindruckt mit einer Fülle äusserst vielfältig und anregend aufbereiteten Materials. Zum Umfang gehören nebst dem Lehrerband Schülerhefte für alle Instrumente des Blasorchesters, Play-alongs und Online-Übehilfen, welche durch einen Code abgerufen werden können, sowie eine CD-ROM mit reichem Zusatzmaterial.

Der Leitfaden Bläserklasse wurde von fünf Autoren gemeinsam entwickelt, die alle Musik auf Gymnasialstufe unterrichten und sowohl über Erfahrung in der Arbeit mit Bläserklassen als auch in der Schulmusik verfügen. Ziel des neuen Lehrmittels ist die Verbindung der in der Bläserklasse heute dominierenden Spielpraxis mit den Inhalten des schulischen Musikunterrichts (Musiktheorie, Gehörbildung, Musik gestalten und erfinden). Das Lehrmittel richtet sich nicht an eine bestimmte Altersgruppe. Es eignet sich wohl für den Einsatz ab der Mittelstufe. Im Lehrerband werden ausführlich das Konzept, die zugrunde liegenden Vorstellungen und Ziele sowie die Methoden in der Arbeit mit den Klassen erläutert.

Der Unterrichtsteil beginnt mit einem Vorkurs, welcher noch ohne Instrumente stattfindet und sich über 3 Einheiten, d. h. ca. 6 Lektionen erstreckt. Anschliessend folgen Basics mit instrumentalmethodischen Grundlagen und dann die Lektionen mit dem Instrument, welche auf zwei Bände mit 23 bzw. 18 Lektionen (1./2. Band) aufgeteilt sind. Jede Lektion bietet Material und vollständig vorbereitete Stundenbilder für 2 Schulstunden.

Das vorliegende Konzept geht von wöchentlich 3 Lektionen erweitertem Musikunterricht, aufgeteilt in 2 Lektionen regulären Musikunterricht mit der ganzen Klasse und 1 Lektion Instrumentalunterricht in Kleingruppen, aus. Wenn weniger Unterrichtszeit zur Verfügung steht, dürfte es schwierig sein, die beiden Bände innerhalb von 2 Schuljahren zu erarbeiten.

Inhaltlich legt das Lehrmittel sehr viel Gewicht auf die Vermittlung von Musiktheorie. Die Grundlagen werden gründlich, aber auch äusserst vielfältig und spielerisch, mit vielen Anregungen für Partner- oder Gruppenarbeiten eingeführt. Gleichzeitig werden die Theorie-Inhalte mit dem praktischen Spiel auf dem Instrument verknüpft und für Kreativaufgaben genutzt. Stets werden die Schülerinnen und Schüler zum praktischen Tun aufgefordert. Pro Lektion (Kapitel) gibt es im Schnitt ein bis zwei in der Regel kurze Musikstücke, was doch eher wenig ist. Meist werden zu den Stücken zusätzliche Anregungen zu Interpretation, Präsentation oder Reflexion sowie Verknüpfungen zur Theorie geboten. Zu vielen Stücken sind auf der beiliegenden CD-ROM zusätzliche vierstimmige Klassen-Arrangements mit einer 2. Stimme, einer Bassstimme und einer Oberstimme «für Geübte» vorhanden, was eine Individualisierung der Anforderungen durch Binnendifferenzierung ermöglicht.

Anhand von speziell gekennzeichneten Werkzeugkästen werden den Schülern spezifische Methoden als Handwerk vermittelt, wie sie selbstständig Musik erarbeiten, Stücke üben oder sich musikalisches Material aneignen können. Die Schülerhefte sind mit Farben und Symbolen ansprechend gestaltet und enthalten unterstützende und anregende Bilder und Grafiken. Allerdings wirken die Seiten insgesamt eher überladen und sehr textlastig, was die Zugänglichkeit etwas erschwert.

Leitfaden Bläserklasse setzt in Sachen thematischer Breite, der Vermittlung von Theorie und allgemeinem Musikverständnis sowie in deren methodisch-didaktischer Aufbereitung neue Massstäbe.

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Sommer/Ernst/Holzinger/Jandl/Scheider: Leitfaden Bläserklasse. Ein Konzept für das erfolgreiche Unterrichten mit Blasinstrumenten, Lehrerband 1 und 2 incl. CD-ROM und Schüler-Lösungshefte, S7770, Fr. 84.50, Helbling, Belp u.a.

Auf der Basis des Autografs

Eine Ausgabe von Dvořáks Streicherserenade mit Passagen, die im Autograf zu finden sind, in bisherigen Ausgaben aber fehlten.

Foto: Dayne Topkin / unsplash.com

Wenn ein Werk des Repertoires in einer neuen, zumal als «Urtext» bezeichneten Ausgabe erscheint, gibt es in (nur gefühlten) 95 Prozent aller Fälle zwei Möglichkeiten: Entweder müssen die editorischen Entscheidungen gegenüber vorhergehenden Ausgaben mit der Lupe gesucht werden (dann stehen meist markttechnische Überlegungen hinter der Ausgabe – und ja: es gibt ein Musik.biz, und das ist fraglos auch gut so), oder es gibt tatsächlich etwas Neues, mitunter auch Spektakuläres zu entdecken. Das mag nur eine Note oder ein Vorzeichen betreffen (von Beethoven bis Berg), manchmal sind es aber doch auch ganze Passagen, die einst in der Eile der Herstellung oder im Strudel der Überlieferung verloren gingen.

Insofern macht auch die vorliegende Neuausgabe von Dvořáks Streicherserenade neugierig: Neben den üblichen kleinen Korrekturen und Ergänzungen wartet sie nämlich mit neuen Takten auf: Im Scherzo sind es 34, im Finale gar 79. Sie finden sich im Autograf, wurden aber 1879 in der gedruckten Partitur bei Bote & Bock nicht berücksichtigt. Freilich, sie fanden bereits 1955 im Band der Gesamtausgabe Eingang (allerdings im Anhang, und somit gingen sie abermals bei IMSLP verloren, ein sich wiederholender gravis defectus). Robin Tait hat aus dieser Not eine Tugend gemacht und für die Neuausgabe das Autograf als Hauptquelle erkoren, somit auch die beim Druck unter den Tisch gefallenen Passagen in den Haupttext integriert (und sie doch als Konzession an die heutige Praxis mit einem Vide-Vermerk versehen). So darf nun frei erkundet werden, obwohl Dvořák selbst als anerkannter Meister später nie eine neue Auflage verlangte. Ich habe mich der Einspielung mit dem Orchestre d’Auvergne unter Roberto Forés Veses bedient – und ja, das damalige Lektorat hat vielleicht (?!) eine gute Entscheidung getroffen. Doch die Diskussion ist eröffnet.

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Antonín Dvořák: Serenade E-Dur op. 22 für Streichorchester, hg. von Robin Tait, Partitur, BA 10423, € 22.95, Bärenreiter, Prag 

Aus der Verschollenheit aufgetaucht

Das Concertino für Bassposaune und Orchester von Christian Gottlieb Müller bietet eine hochwertige Alternative zu Ernst Sachses Concertino.

Foto: Rich Smith / unsplash.com

Der Komponist Christian Gottlieb Müller (1800–1863) ist wohl vielen Musikern ziemlich unbekannt. Vielleicht mag die Tatsache, dass er Richard Wagners Lehrer war, ihm ein bisschen mehr Glanz verleihen. Und dies bestimmt nicht zu Unrecht: Die Partitur des 15-minütigen Bassposaunenkonzerts aus dem Jahre 1832 (schon damals gedruckt bei Breitkopf & Härtel) zeugt von gutem Handwerk, das sich Müller durch das intensive Studium der Werke Beethovens angeeignet hatte. Die Orchesterbesetzung (2-faches Holz, 2 Hrn, 2 Trp, Timp, Streicher), die Tonart (Es-Dur), der kadenzartige Beginn des Soloinstrumentes, die Virtuosität im 3. Satz und viele weitere Merkmale (z. B. Melodieführung in Oktaven zwischen Flöte und Klarinette im 2. Satz) erinnern an das rund 20 Jahre früher entstandene 5. Klavierkonzert seines Idols Ludwig van Beethoven.

Das Concertino galt lange Zeit als verschollen, insbesondere die Orchesterfassung. Nur ein ziemlich fehlerhafter, handschriftlicher Klavierauszug aus den 1950er-Jahren hielt die Erinnerung an das Werk wach. Erst im Jahre 2004 tauchte überraschend ein vollständiger Orchesterstimmensatz auf, welcher die Grundlage für die vorliegende Partitur bildet. Die Einzelstimmen sind als Mietmaterial erhältlich, die Partitur und ein ordentlicher Klavierauszug sind käuflich. Eine wahrlich erfreuliche Alternative zu Ernst Sachses Bassposaunen-Concertino – nicht zuletzt auch für Orchesterprobespiele.

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Christian Gottlieb Müller: Concertino für Bassposaune und Orchester Es-Dur, hg. von Nick Pfefferkorn, Partitur PB 33001, € 36.00, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2012/2018

Schwärme spenden 2,3 Millionen Franken für Musik

Laut dem Crowdfunding Monitor der Hochschule Luzern wurden 2018 516.6 Millionen Franken über Crowdfunding-Plattformen vermittelt. In Musikprojekte flossen gerade mal 2.3 Millionen Franken.

Foto: Ryoji Iwata / Unsplash (s. unten)

Das Crowdfunding-Volumen ist gegenüber dem Vorjahr noch einmal um 38 Prozent angestiegen. Damit hat sich die Schweiz zu einem der grössten Crowdfunding-Märkte in Kontinentaleuropa entwickelt. Im Vorjahr lag der Wert noch bei 374,5 Millionen Franken. Seit der Entstehung von Crowdfunding in der Schweiz wurden über diese alternative Finanzierungsform Projekte im Umfang von knapp 1.1 Milliarden Franken finanziert.

Das Crowdfunding in der Schweiz lässt sich in vier Bereiche unterteilen: Crowdsupporting/Crowddonating, Crowdinvesting, Invoice Trading und Crowdlending. Im Bereich Crowdlending wurden Kredite im Umfang von 261,9 Millionen Franken (+40 Prozent) finanziert. Im Crowdinvesting erreichten die Investitionen 204,9 Millionen Franken (+52 Prozent). Beim Crowdsupporting/Crowddonating wurden Projekte mit über 25,6 Millionen Franken unterstützt (-12 Prozent). Die grössten Wachstumstreiber im Jahr 2018 waren die Finanzierung von KMU mittels Crowdlending sowie Investitionen in Immobilien über Crowdinvesting.

Das Volumen im Crowdsupporting ist im Vergleich zum Vorjahr leicht zurückgegangen. Die Anzahl an Kampagnen nahm jedoch um 7 Prozent zu. Besonders populär ist die Kategorie Sport, wo insgesamt 568 Projekte mit einem Umfang von 5,4 Millionen Franken finanziert wurden. Soziale Projekte wurden mit 3,1 Millionen Franken gefördert, in den Bereich Musik flossen 2,3 Millionen Franken. Ebenfalls sehr erfolgreich waren Projekte mit kommerzieller Ausrichtung, bei welchen Crowdfunding als Vorverkaufskanal für Produkte genutzt wird. Das Volumen belief sich in diesem Bereich auf 5,3 Millionen Franken.

Kontinuität in der Schweizer Kulturpolitik

An seiner heutigen Sitzung hat der Bundesrat die Vernehmlassung zur Botschaft über die Förderung der Kultur für die Periode 2021-2024 eröffnet. Bis am 20. September kann man zur neuen Kulturbotschaft Stellung nehmen.

Der Bundesrat fasst in seiner heutigen Medienmitteilung die wichtigsten Punkte aus der neuen Kulturbotschaft zusammen: Die drei «Handlungsachsen – kulturelle Teilhabe, gesellschaftlicher Zusammenhalt, Kreation und Innovation – werden für die Periode 2021-2024 beibehalten.» Für die Umsetzung des zur Vernehmlassung vorgelegten Entwurfs seien 942,8 Millionen Franken vorgesehen, was einer Mittelaufstockung von 35.4 Millionen Franken entspreche.

Im Bereich «kulturelle Teilhabe» solle das Programm «Jugend und Musik» konsolidiert werden. In Zusammenarbeit mit den Kantonen und mit Musikorganisationen werde der Bundesrat eine musikalische Begabtenförderung einführen. Im Bereich «gesellschaftlicher Zusammenhalt» würden die schulischen Austauschaktivitäten zwischen den Sprachgemeinschaften verstärkt und ein Austauschprogramm für Lehrpersonen eingerichtet. Im Bereich «Kreation und Innovation» solle schliesslich die Kooperation zwischen Kultur und Wirtschaft fortgesetzt werden.

Zudem setze der Bundesrat neben der Kontinuität einen besonderen Schwerpunkt auf die Digitalisierung. Der digitale Wandel beeinflusse sämtliche Bereiche und Institutionen der Kultur in Bezug auf Produktion, Vermittlung und Erhaltung.

In der Förderperiode 2021-2024 solle die Zusammenarbeit mit den Kantonen, Städten und Gemeinden im Rahmen des Nationalen Kulturdialogs fortgeführt werden. Der Bund wolle sich zudem für die Gleichstellung von Frauen und Männern im Kulturbereich und für eine angemessene Entlöhnung der Kulturschaffenden einsetzen.

Die Vernehmlassung dauert bis am 20. September 2019. Der Entwurf der Kulturbotschaft wird am Treffen der Parlamentarischen Gruppe Musik vom 5. Juni in Bern vorgestellt.
 

Link zur Kulturbotschaft 2021-2024

Die Botschaft kann von dieser Seite heruntergeladen werden:

https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-75271.html

 

Frische und Farbe

Im vergangenen Jahr hat der Grandseigneur des Schweizer Jazz, Franco Ambrosetti, nicht nur seine Autobiografie, sondern auch eine weitere CD veröffentlicht: Jazzmusiker treffen auf ein klassisches Orchester.

Franco Ambrosetti. Foto: zVg

Von seinem Vater hat Franco Ambrosetti nicht zuletzt zwei Dinge geerbt: Die Liebe zum Jazz und ein familieneigenes Unternehmen mit mehreren Hundert Angestellten. Dieses leitete der Trompeter und Flügelhornist während 27 Jahren – bis er die Firma 2000 verkaufte, um sich ganz der Musik zu widmen. Davon erzählt Ambrosetti in seiner lesenswerten, im letzten Jahr erschienenen Autobiografie Zwei Karrieren – ein Klang. Auf diese hat er mittlerweile auch eine neue CD, The Nearness Of You, folgen lassen.

Deren Musik geht auf ein Projekt für das Sanremo-Jazzfestival 2016 zurück: Der Tessiner wurde gebeten, einen Konzertabend mit dem Sanremo Symphony Orchestra unter der Leitung von Massimo Nunzi zu entwickeln; zwei Jahre später fand man im Studio wieder zusammen, um die zehn Stücke für die Nachwelt festzuhalten. Im Fokus stand das Aufeinandertreffen klassischer Musiker mit Jazzsolisten.

Ambrosetti, inzwischen 77-jährig, beweist in dem Album sein Flair für einen möglichst warmen Sound. Faszinierend ist auch, wie gut ihm die Balance zwischen Jazz und Orchestralem gelingt. Die Arrangements sind breit und doch differenziert angelegt und zeigen sich überaus agil. Davon zeugen etwa das subtile Un Uomo Disabitato oder das sanft melancholische My Ship aus der Feder von Kurt Weill und Ira Gershwin. Das Album, das mitunter wie der Soundtrack zu einem opulenten Hollywood-Film aus den 1950er-Jahren anmutet, entfaltet sich mit viel Leichtigkeit. Und sorgt auch für Spannung, indem Ambrosetti Gin And Pentatonic oder A Bix Within A Wheel mit abstrakten Passagen anreichert. Das ist unbequem, sorgt aber für Frische und Farbe. Die CD endet mit Haden, einem Mini-Requiem für den 2014 verstorbenen Kontrabassisten Charlie Haden. Es ist der würdige Abschluss eines Werkes, das von A bis Z zu gefallen weiss.

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Silli In The Sky
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Franco Ambrosetti: The Nearness Of You. Symphonic Orchestra and Jazz Band. Werke von Hubbard, Nunzi, Leonard, Weill, Ambrosetti, Jobim, Carmichael, arr. Massimo Nunzi und Gianni Ferrio. Unit Records 4889

Der gemeinsame Weg als musikalisches Ziel

Im Rahmen des alle vier Jahre stattfindenden Berliner Orchestertreffs zur Förderung des instrumentalen Amateurmusizierens probte Vladimir Jurowski am 25. Mai mit Laienmusikern Schostakowitschs Suite für Varieté-Orchester.

Amateurmusiker proben unter Vladimir Jurowski. Foto: © Markus Senften

Es ist eine spannende und reizvolle Ausgangslage für alle Beteiligten: Im gross besetzten Sinfonieorchester befinden sich rund 100 erwartungsvolle Laienmusiker aller Alters- und Leistungsklassen. Am Pult steht kein geringerer als der renommierte Dirigent Vladimir Jurowski. Gemeinsames Ziel der rund 90-minütigen Begegnung ist das Proben dreier Sätze aus Dmitri Schostakowitschs Suite für Varieté-Orchester.

Dieses einzigartige Zusammentreffen zwischen Amateurmusikern und Stardirigent nennt sich «offene Probe» und findet im Rahmen des Berliner Orchestertreffs Ende Mai 2019 in der Landesmusikakademie Berlin statt. «Offen» heisst in diesem Falle nicht nur, dass die Probe öffentlich ist, sondern ebenso, dass sämtliche interessierten Laienmusiker zur Mitwirkung zugelassen werden, die sich zur Teilnahme am Orchestertreff des Landesmusikrats Berlin eingeschrieben haben. Der Begriff «Probe» ist ebenfalls wörtlich zu verstehen, da die Orchesterarbeit nicht wie sonst üblich in einem Konzert oder einem Wettbewerbsvorspiel gipfelt, sondern für sich steht.

Vladimir Jurowski scheint sich daran nicht zu stören, im Gegenteil. «In der heutigen Zeit, wo jeder nur noch mit seinem Bildschirm kommuniziert, ist das gemeinsame Musizieren wichtiger denn je», meint der Chefdirigent und Künstlerische Leiter des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin vor Beginn der Probe. Dabei ist für ihn unerheblich, ob die Musik von Berufsmusikern, in Laienformationen oder – wie in der Familie Jurowski üblich – im Kreise der Verwandtschaft erklingt. «Amateurmusiker sind wortwörtlich ‹Liebhaber› der Musik», sinniert er. «Und genau darum geht es bei einem derartigen Orchestertreff: zusammenkommen, einander zuhören, gemeinsam Musik machen.» Er verschweigt nicht, dass er für die Arbeit mit Hobbymusikern eher ein klassisches Stück denn ein Werk seines Landsmanns Schostakowitsch ausgewählt hätte. Aber da der Wunsch nun mal im Raum steht, nimmt er die Herausforderung an und verrät: «Für mich besteht der Reiz dieser offenen Probe primär darin, vom ersten Anspielen bis zum letzten Durchspiel des Werkes einen gemeinsamen Weg zurückzulegen.» Wie dieser Weg aussehen und wo er enden würde, nun ja, auch das ist buchstäblich «offen».

Das erste Durchspiel des allseits bekannten Marsches aus der Suite für Varieté-Orchester macht denn auch schnell klar, dass dem designierten Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper nicht die höchste Perfektion entgegenbranden würde. Gewisse Aspekte, wie etwa Rhythmus oder Intonation, liessen erkennen, dass im Foyer des Freizeit- und Erholungszentrums Wuhlheide in Berlin mehrheitlich Laien musizieren – sieht man von einzelnen Stimmführern in den Streichern einmal ab, die dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin angehören.
 

Präzise und zielgerichtet

Für die teilnehmenden Musikerinnen und Musiker ist es in der Folge äusserst faszinierend zu erleben, an welchen entscheidenden Details der in Berlin lebende Dirigent kurzzeitig, aber zielbestimmt arbeitet, um das Werk zu einem Ganzen zusammenzufügen: Mal probt Vladimir Jurowski mehrere Minuten konzentriert nur mit den Streichern, dann bittet er die Posaunen, einzelne Akkorde aufzubauen, bevor einzelne Stellen in den Alt-Saxofonen auseinander genommen oder die Trompeten in Sachen Dynamik instruiert werden. Er versteht es dabei, auch jene Musiker zu fesseln, die gerade nicht im Einsatz stehen. Immer wieder streut er spannendes Hintergrundwissen zu Schostakowitschs Situation als «geächteter Komponist» in der Sowjetunion ein oder bringt seine klanglichen Zielvorstellungen in bildreicher Sprache oder anregender Gestik zum Ausdruck.

Während einzelne Musikerinnen vorrangig an der Probe mitwirken, um Teile aus Schostakowitschs Jazz-Suite zu spielen, sind andere Orchestermusiker extra nach Berlin gereist, um einmal unter dem bekannten Dirigenten zu musizieren. Doch so divers sich die Ansprüche und Absichten aller Beteiligten zu Beginn der Probe ausnehmen mögen: Am Ende lassen sich alle im Ad-hoc-Orchester mit grosser Begeisterung auf Vladimir Jurowskis Anleitungen ein und scheinen seine klare Ansprache und die präzise Probenarbeit richtiggehend zu geniessen.

Das finale Durchspiel von Marsch, Kleiner Polka und dem Walzer Nr. 2 hinterlässt einen grossen Haufen euphorischer Amateurmusiker, die in der gut einstündigen Probe unter Vladimir Jurowski nicht nur einen gemeinsamen, sondern vor allem auch einen musikalisch wie zwischenmenschlich unvergesslichen Weg zurückgelegt haben.
 

Redaktioneller Hinweis

Die Autorin aus Aarau spielte als Fagottistin mit.

Digitalizzazione: Studieren und Digitalisierung

In dieser Ausgabe geht es nochmals um das Thema der Digitalisierung, nun mit einem Kooperationsbeispiel aus dem Tessin sowie den Möglichkeiten telematischer Formate in Zürich. Ergänzend dazu die Statements von zwei Studierenden, wie sie die Digitalisierung erleben.

Nadir Vassena — Cosa significano veramente «digitale», «digitalizzazione» nell’ambito musicale artistico e didattico? A questa domanda i più rispondono con degli esempi di applicazioni. Anche all’interno della Scuola universitaria del Conservatorio della Svizzera italiana ci sono esperienze che sfruttano le possibilità offerte dalle cosiddette «nuove» tecnologie. Se già da anni gli studenti le adottano – per esempio per registrarsi e valutare a freddo l’esecuzione di un brano (o la gestualità, nel caso di un aspirante direttore d’orchestra) – le prime iniziative originali per integrare musica e tecnologia sono quelle sviluppate da Spazio21, l’unità che si occupa della realizzazione di progetti interdisciplinari e attività legate soprattutto alla creazione contemporanea. I nostri progetti partono da esigenze molto concrete. Ad esempio, in ambito didattico abbiamo sviluppato un programma per l’ear training, modellato sulle richieste del nostro corso di ascolto per il bachelor e modificabile in base al livello di preparazione e alle necessità di apprendimento del singolo studente. Dopo la realizzazione di un primo prototipo (TiAscolto) distribuito come software, stiamo ora portando il prodotto sul web (SOLO: ear training web app) grazie alla preziosa collaborazione con il Software Institute della Facoltà di Informatica dell’Università della Svizzera italiana. Il materiale, in continuo aggiornamento, è liberamente disponibile sulla piattaforma empiricalbox.ch.

Ma la digitalizzazione non è solo un insieme di tecnologie. Per la musica l’avvento del digitale ha rappresentato un cambiamento epocale. Il settore è stato tra i primi in cui la conversione dall’analogico al digi- tale ha comportato non solo una modifica della tecnica impiegata per rappresentare il segnale sonoro – anche le partiture! – ma, di conseguenza e progressivamente, di tutta la produzione, la distribuzione e la fruizione. Di molti di questi processi non si è spesso consapevoli. Da un lato il formato digitale apre nuove opportunità di creazione, trasmissione, diffusione e condivisione ma contemporaneamente bisogna ricordarsi che queste operazioni – per esempio la catena di traduzioni analogico/ digitale – non sono mai neutrali.

EAR: Electro Acoustic Room

Per rendere attenti ai cambiamenti di paradigma in atto nella creazione e ricezione della musica elettronica – che in grandissima misura vive proprio dello sviluppo tenologico degli ultimi decenni – è nata EAR: Electro Acoustic Room, una serie di concerti dedicati alla musica acusmatica. Ormai giunta alla quarta stagione, questa coproduzione fra Conservatorio e LuganoMusica si concentra sul repertorio di musica su supporto che, proprio grazie alle facilità offerte dal digitale, è possibile diffondere e spazializzare efficacemente. Un compito complesso quello della diffusione, che richiede un’attenta interpretazione dell’opera e che trasforma ogni altoparlante in un vero e proprio strumento musicale. Per fare tutto ciò in modo rispondente alle nostre esigenze specifiche, abbiamo sviluppato un software che, concerto dopo concerto, continuiamo a perfezionare, sempre convinti che la «digitalizzazione» nella formazione va di pari passo con l’acquisizione della consapevolezza delle tecnologie che ci circondano.

Nadir Vassena

… è Professore di composizione alla Scuola universitaria di Musica del Conservatorio della Svizzera italiana e Responsabile di Spazio21.

 Timo Waldmeier, was bedeutet für Sie individuell Digitalisierung?

Digitalisierung bedeutet für mich Zentralisierung, Entmaterialisierung (in Bezug auf Noten) und höhere Geschwindigkeit bei der Informations-, Notenbeschaffung und in der Kommunikation. Sie kann aber gleichzeitig auch einen Bezugsverlust zur Realität und zur Materie begünstigen.

Worin sehen Sie Gefahr und Nutzen der Digitalisierung im Kontext der musikalischen Ausbildung oder der musikalischen Ausübung?

Ich denke, die Gefahr in der Digitalisierung besteht darin, dass sie unser Stresslevel durch zu häu-fige Erreichbarkeit und die dadurch möglich gemachte, zu kurzfristige Organisation massiv erhöhen kann. Ich versuche also, die Effizienz und die Zentralisierung der Digitali- sierung zu nutzen. Ich muss dabei allerdings darauf achten, dass ich arbeitsfreie und unerreichbare Zeiten viel aktiver gestalte und in meinen Alltag einbaue, um ihren «Gefahren» zu trotzen. 

Timo Waldmeier

… studiert Chorleitung an der Hochschule für Musik FHNW Basel.

Michelle Süess, wie hat die Digitalisierung Ihr Leben in den letzten Jahren verändert?

Einerseits hat die Digitalisierung meine Kommunikation verändert: Dadurch, dass die meiste Kommunikation bei mir durch Emails, SMS und Nachrichten-Apps erfolgt, welche alle mit dem Smartphone bedienbar sind, habe ich in den letzten Jahren immer mehr gespürt, wie die Erwartung an eine schnelle Antwort (bei mir, aber auch bei meinen Gegenübern) stieg. Andererseits ermöglicht die Digitalisierung den vereinfachten Zugang zu spezifischen Informationen und die Möglichkeit einer einfachen Verwaltung von Unterlagen. Ich bin wirklich sehr dankbar, dass ich spezifische Informationen für beispielsweise Recherchearbeiten nicht mehr (nur) durch stundenlanges Wälzen von Büchern, sondern auch durch das Suchen und Recherchieren im Internet finden kann. Auch finde ich es sehr praktisch, meine Unterlagen wie Unterrichtsmaterial, Arbeitsmaterial etc. immer auf meinem Laptop dabei zu haben, ohne immer alles zusammensuchen zu müssen.

Welchen Einfluss hat die Digitalisierung auf Ihr Studium resp. Ihre Laufbahn?

Da im Studium sehr viel durch Emails und auch teilweise durch Moodle kommuniziert wird, ist es manchmal schwer, den Überblick zu behalten und herauszufiltern, was wirklich wichtig ist. So gehen bei mir persönlich beispielsweise durch Emails kommunizierte Hausaufgaben/Informationen schneller unter als in der Stunde mitgeteilte. Einen Einfluss hat die Digitalisierung auch bei der Kommunikation der Werbung für Konzerte/Auftritte/Anlässe. Der Gebrauch der digitalen Plattformen und Medien zur Streuung von Flyern oder zum Einladen von Gästen ist sehr effektiv und inzwischen sehr wichtig. Im Bereich der Gehörbildung wird die Digitalisierung viel genutzt. So können zum Beispiel Melodiediktate bei uns individuell auf einem Gerät abgespielt werden. Die Lehrperson braucht die Melodie nicht jedes Mal am Klavier zu spielen, und die Studierenden können das Diktat in ihrem Tempo lösen.

Michelle Süess

… macht den Bachelor of Arts in Musik und Bewegung an der Musikhochschule Basel FHNW.

Patrick Müller — Estelle Lacombe studierte an den Universitäten von Zürich und Paris – allerdings ohne sich von ihrem Zuhause in Lauterbrunnen ob Interlaken fortbewegen zu müssen. Dies war 1951 – wenn auch nur in der Vorstellung eines Science Fiction-Autors, Albert Robida, der seinen Roman «La Vie Electrique» 1890 veröffentlichte. Estelle kommuniziert und studiert darin vermittels des sogenannten «Téléphonoscope», also eines Geräts, das dem heutigen Videochat entspricht. Was Ende des vorletzten Jahrhunderts noch in einer fernen Zukunft lag, ist inzwischen Alltag geworden – nicht nur auf einer technischen Ebene, sondern etwa auch im Hinblick darauf, wie die breite und schnelle Verfügbarkeit des Wissens die Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden prägt. Gerade digitale Medien ermöglichen den sekundenschnellen Zugriff auf Wissensbestände unterschiedlichster Herkunft, die möglichen Autoritäten und Kanons haben sich vervielfacht. Heutige Studierende, Digital Natives, wissen dies mit grosser Selbstverständlichkeit und produktiv zu nutzen.

Telematische Formate 

Seit rund sechs Jahren erkundet eine Gruppe von Musikern, Künstlerinnen und Technikern, unter der Leitung von Matthias Ziegler und Patrick Müller, an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) Möglichkeiten, welche sich aus telematischen Formaten ergeben können. Darin werden Räume, die an geographisch unterschiedlichen Orten liegen, über das Internet so miteinander verbunden, dass Musikerinnen und Musiker (aber auch Schauspielerinnen, Tänzer, etc.) über Distanz in Echtzeit interagieren können: Ein Videochat also, in dem nun aber die digitalen Kommunikationstechnologien so eingesetzt werden, dass sie auch einen Austausch auf musikalisch-künstlerischer Ebene möglich machen. Das Projekt wurde in den letzten Jahren vom SNF unterstützt. Bisherige telematische Konzerte zwischen Zürich und Orten wie Bern, Belfast, San Diego oder Hong Kong haben gezeigt, dass nur ein sorgsamer Zugang künstlerisch sinn- und wertvolle Situationen schaffen kann. Erst das Wissen über technologische Möglichkeiten und Erfahrungen in der Gestaltung des szenischen Arrangements von vermittelnden Bild- und Klangmedien ermöglicht Musikerinnen und Musikern eine produktive Zusammenarbeit über geographische Entfernungen.

Diese Erfahrungen aus künstlerischer Perspektive werden an der ZHdK nun auch für pädagogische Settings produktiv gemacht. Einerseits wird der Umgang mit telematischen Mitteln und deren Ästhetik selbst über ein im Aufbau befindliches Online-Lerntool vermittelt. Andererseits interessieren Verwendungsweisen, die sich von den gängigen Vermittlungsformen im Online-Learning, die oft eine One-to-many-Struktur haben, unterscheiden (Webinars beispielsweise oder MOOCs): In Few-to-few-Settings beispielsweise können im Improvisationsunterricht Kleingruppen von verschiedenen Hochschulen zusammengeführt werden, kulturelle Differenzen der verschiedenen Standorte werden zum Thema. Im instrumentalen Einzelunterricht – one-to-one – schliesslich hat sich gezeigt, wie instrumentenspezifisch die entsprechenden Unterrichtsumgebungen gestaltet werden müssen: Im Gesangsunterricht etwa ist die Repräsentation des ganzen Körpers zentral, Cellistinnen und Cellisten hingegen benötigen eine Bildeinstellung in der Videoübertragung, welche die Bogenbewegung aus einem repräsentativen Winkel zeigt. Wertvoll hat sich ausserdem erwiesen, dass das ungewöhnliche Setting von selbst zu einer produktiven Selbstreflexion der Unterrichtspraxis führt, bei Lehrenden wie Studierenden. Und es gilt, Ausbildungsmodelle zu entwickeln, die telematischen Einzelunterricht nicht als ausschliessliches, aber als ergänzendes – und bereicherndes – Mittel verstehen.

Patrick Müller

… ist Leiter Transdisziplinarität an der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK.

Auftreten, um warten zu lassen

Die Beatles, Jimi Hendrix, Led Zeppelin, Pink Floyd, Bob Dylan: Alle mussten da durch. Lehr- und Wanderjahre, Sprungbrett oder Fegefeuer – als Vorgruppe das Publikum auf den Star warten lassen, ist eine Erfahrung, die viele Musikerinnen und Musiker kennen.

Foto: Pixnio
Auftreten, um warten zu lassen

Die Beatles, Jimi Hendrix, Led Zeppelin, Pink Floyd, Bob Dylan: Alle mussten da durch. Lehr- und Wanderjahre, Sprungbrett oder Fegefeuer – als Vorgruppe das Publikum auf den Star warten lassen, ist eine Erfahrung, die viele Musikerinnen und Musiker kennen.

Die Idee, eine Vorstellung mit verschiedenen Auftritten zu bestreiten, gibt es in der Geschichte der Unterhaltung seit eh und je und in allen Künsten. Das «Hauptgericht» wird garniert, um dem Publikum mehr für sein Geld zu bieten, um Übergänge zu «möblieren». Den Künstlern gibt das die Gelegenheit zu experimentieren und mit Kurzformen umzugehen. Denken wir nur an die Intermezzi, eingestreut in Opernaufführungen, aus denen schliesslich die Opera buffa hervorging, die Potpourri-Konzerte des 19. Jahrhunderts, die Curtain raisers des viktorianischen Theaters oder in jüngerer Zeit Varieté-Abende. Bei Auto- und Pferderennen spricht man von Undercards, beim Boxen von Vorkämpfen.

All das dient dazu, das Publikum gleichzeitig warten zu lassen und in Stimmung zu bringen, es «vorzuwärmen« für die Hauptattraktion. Es hält die Kosten der Veranstalter in Grenzen, die Anfängern eine vielbeachtete Plattform bieten, im Gegenzug aber sehr wenig oder gar nichts für deren Auftritt zahlen. Wenn nicht sogar die Auftretenden zur Kasse gebeten werden …

Wir haben einige Aussagen zum Thema zusammengetragen: «Du spielst sehr häufig gratis und musst all dein Material mitnehmen, weil der Hauptkünstler dir seins nicht leiht, dir aber nur fünf Zentimeter der Bühne überlässt», sagt Pilli, Sänger und Gitarrist der Gruppe Labradors, eine Band, die in Italien gerade aus der alternativen Szene herauswächst. «Manchmal ist es erniedrigend: Die Stars behandeln dich von oben herab, du spielst vor einem leeren Saal und das Ganze hilft dir in der Zukunft in keiner Weise weiter. Wenn du darüber hinaus für den Auftritt bezahlt hast, ist es abscheulich. Zum Glück haben wir weder Manager noch Agentur, so können wir selbst bestimmen, für wen wir spielen und zu welchen Bedingungen. Es ist immer besser, wenn du als Vorgruppe einer Band auftrittst, die du magst und die sich im persönlichen Umgang als freundlich herausstellt.»
 

Nicht immer eine negative Erfahrung

«Wir haben Sen Dog, den Rapper von Cypress Hill, eingeladen, als Gaststar bei einem unserer Titel mitzumachen», erzählt Ignacio Millapani, Bassist von CardiaC, einer bekannten Genfer Hardcore-Metal-Band. «Sen Dog hat daraufhin versprochen, ein Wort bei der Produktionsfirma einzulegen, um uns als Vorgruppe von Cypress Hill bei einigen ihrer Konzerte in Europa unterzubringen. Und er hat Wort gehalten. Er hat seinen Einfluss beim Veranstalter spielen lassen. Dieses Vorgehen ist aber eher ungewöhnlich, denn normalerweise platziert das Label dort Gruppen, die es unter Vertrag hat. Sen Dog hat seine Stellung genutzt, um Druck zu machen. Da wir aber als unabhängige Band auftraten, mussten wir uns auch allein um die Logistik unseres Materials kümmern, grosse Schwankungen bei der Gage in Kauf nehmen – und dem guten Stern, der uns diese Möglichkeit gegeben hatte, immer schön dankbar bleiben. Trotzdem war es eine sehr interessante und nützliche Erfahrung: Wenn du vor 3000 Leuten spielst, achtest du auf jedes kleinste Detail, was einen Qualitätssprung zur Folge hat. Und du lernst mit der technischen Einrichtung grosser Bühnen umzugehen. Die Tonmeister dort spielen in einer ganz anderen Liga, du kannst dich also über einen genialen Sound freuen. Und schliesslich ist es eine ganz gute Schule, vor einem Publikum zu spielen, das keine Lust hat, dich zu hören, das du aber doch aufwärmen musst. Es bringt dich dazu, wirklich alles zu geben.»

«Bei meinen Erfahrungen mit Eröffnungsauftritten habe ich Glück gehabt: Bandleader und Dirigenten wie Eddie Gomez oder Giovanni Sollima haben mir als Auftakt ihrer Konzerte ihre Ensembles überlassen, um meine Kompositionen auszuprobieren», berichtet Maurizio Berti, Schlagzeuger, Pianist und Komponist. «Ich habe für sehr herablassende Stars des italienischen Pop eröffnet, die sich mit dem Helikopter einfliegen liessen. Viele Leute in diesem Zirkus machen dir das Leben schwer, einige sind wirklich widerlich; wir kennen das alle in diesem Beruf. Wichtig ist, was du am Ende davon hast: der rein musikalische Gewinn, der Kontakt, den du zu den Künstlern aufbauen kannst und was du von ihnen lernst.

In diesem Zusammenhang möchte ich erzählen, was ich als Eröffnungsnummer für Jason Rebello erlebt habe. Ich schätze ihn sehr, und vor ihm aufzutreten, schüchterte mich ein. Er ist mit Sting, Jeff Beck und allen Grossen auf der Bühne gestanden. Ich wollte das Konzert am Klavier beginnen, mit einem Trio und fast ausschliesslich eigene Kompositionen spielen. Wir waren dann vor der Vorstellung am Essen und mir war gar nicht wohl bei der Sache. Ich war nicht sicher, ob ich mich richtig vorbereitet hatte. Ich floh aus dem Restaurant und begann im Theater mit Übungen, die man so macht, um sich aufzuwärmen vor einem Auftritt – wie ein Schüler, der am Morgen vor dem Unterricht noch schnell die Aufgaben von jemandem abschreibt. Plötzlich kommen Leute. Ich höre auf und tue, als würde ich meine Noten vorbereiten. Jason Rebello kommt zu mir, nimmt mich zur Seite. Er hatte begriffen, was in mir vorging. Er sagt mir: ‹Warum hast du aufgehört? Mit hat das gefallen. Du solltest dich nicht genieren, deine eigene Musik zu spielen. Und du solltest keine Angst davor haben, etwas falsch zu machen. Wir haben diesen Beruf gewählt, weil wir ihn lieben und weil er uns weiterbringt. Warum sonst? Ich habe mir früher auch Sorgen gemacht, ob ich gut genug vorbereitet sei, bis ich bemerkt habe, dass das nicht so wichtig ist, dass mich diese Sorge sogar ablenkt. Du hast nicht genug geübt? Morgen wird es besser gehen und in ein paar Wochen erst recht. Aber jetzt musst du auftreten. Wenn du Fehler machst, spielt das keine Rolle. Kaum jemand wird es merken. Und manchmal öffnen die Fehler ja auch Türen zu etwas Neuem, Interessantem. Darum: Spiel einfach, geniess es und freu dich!›»
 

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Kaum zu glauben: Die Beatles haben als Vorgruppe von Sylvie Vartan gespielt, 1964 im Pariser Olympia.

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Warten auf die Zukunft

Im musikalischen Denken ist das Warten eines der fruchtbarsten Konzepte sowohl für die spekulative Vorstellungskraft wie die technische Argumentation. Der grundlegende Begriff der Unterbrechung – ohne sie würden die Instrumente einer Partitur ständig alle spielen und eine undefinierbare Kakofonie hervorbringen – führt ohne Umwege zum Warten; genauso wie die Idee des Stillstands – wenn also keine Entwicklung stattfindet – zum eigentlichen Wesen des Wartens zurückführt. Schliesslich enthält auch die Notwendigkeit innezuhalten – unabdingbar für die physische und agogische Atmung – im Kern das Warten. Wir können es nicht ändern: Das Bedürfnis zu warten, ist der Musik im Innersten eingeschrieben.

Über diese – wichtigsten und häufigsten – Betrachtungen zum Thema warten in der Musik hinaus können wir uns auch eine andere Art des Wartens vorstellen. Was wir eben angesprochen haben, ist technischer, formaler und synchroner Art (also bezogen auf Inhalte, die sich im Laufe der Zeit nicht verändern). Das Warten hat aber auch etwas Diachronisches, das Kräfte der Menschheitsentwicklung spiegelt und die Zeitalter menschlicher Kultur betrifft. In diesem Sinne ist Warten auch Erwartung, Hoffnung, Perspektive. Es kann sich als Angst oder Ungewissheit äussern, aber auch als Vertrauen. Es geht ganz grundsätzlich um Künftiges: Warten heisst auch, unsere Beziehung zu einer möglichen Zukunft ermessen.

«Wenn Lärm stets Gewalt ist, ist Musik stets Prophetie: Hörend können wir die Zukunft der Gesellschaft vorwegnehmen.» Das schrieb vor einigen Jahren der französische Ökonom, Essayist und Bankier Jacques Attali in Bruits. Essai sur l’économie politique de la musique. Und wenn dieser Gedanke auch wenig konkret erscheint, so ist er es doch, der der Musik jene im weiteren Sinn kulturelle Verantwortung zurückgibt, der sie nie ausweichen sollte: Wie kann die Musik Ausdruck überzeitlicher Gegebenheiten sein? Wie geht die heutige Musik über ihre Zeitgebundenheit hinaus, um eine Entwicklungsrichtung auszumachen?

Die Antwort ist leider enttäuschend, vor allem wenn wir die führenden Institutionen zur Erhaltung der musikalischen Kultur betrachten: Die Musikhochschulen geben ihre Absichten – zumindest im Lateinischen – bereits im Namen an: «Konservatorium» nicht «Innovatorium». Und die Programme der wichtigsten Konzertveranstalter spiegeln ein Ausdrucksbedürfnis, wie es vor (mindestens) hundert Jahren bestanden haben muss. Die Zukunft flösst in diesen Fällen ehrfürchtigen Schrecken ein, sie zu erwarten, bedeutet Beklemmung und Angst.

Die Zukunft kommt aber auf jeden Fall. Wenn sie uns nicht erschlagen soll, müssen wir begreifen, dass die musikalische Kultur nicht durch das monumentale Konservieren von Werten, Inhalten, Formen und Haltungen der Vergangenheit gerettet wird, sondern dadurch, dass die Möglichkeit der Musik, Kultur zu werden, etwas Natürliches bleibt, wie in vergangenen Zeiten, wo sie so viele köstliche Früchte hervorgebracht hat. Das – gesunde, nicht schreckensstarre – Warten muss sich dynamisch und lebendig dem wunderbaren Unbekannten zuwenden, das uns das Leben bereithält. Auch in der Musik.

 

Zeno Gabaglio
 

… ist Musiker und Philosoph, Präsident der Tessiner Subkommission Musik, Jurymitglied des Schweizer Musikpreises und Mitglied des SUISA-Vorstands.
 

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Es ist ein Zeit-Ding!

Michael Egger, der Sänger der Band Jeans for Jesus, ertappt sich beim Warten ständig am Handy. Seine Texte und Melodien brauchten aber Zeit, sagt er, und manchmal Druck. Auf Tour und in ihrer Arbeitsweise ist Warten Alltag für die Band.

Michael Egger, Sänger der Band Jeans for Jesus. Foto: Éric Bolliger
Es ist ein Zeit-Ding!

Michael Egger, der Sänger der Band Jeans for Jesus, ertappt sich beim Warten ständig am Handy. Seine Texte und Melodien brauchten aber Zeit, sagt er, und manchmal Druck. Auf Tour und in ihrer Arbeitsweise ist Warten Alltag für die Band.

Die Berner Band Jeans for Jesus publizierte 2014 ihr erstes Album, nachdem sie mit Estavayeah – auch für sie selbst unerwartet – den Schweizer Sommerhit des Jahres 2013 gelandet hatte. Sie macht zeitgenössisch digitale, sphärisch elektronische Musik mit berndeutschen Texten. Die Mitglieder, Michael Egger (Mike), Philippe Gertsch (Phil), Demian Jakob (Demi) und Marcel Kägi (KG), kennen sich seit der Schulzeit; Jeans for Jesus entstand aus einer Schülerband. Auch das zweite Album «P R O» von 2017, das sie zusammen mit einem Parfum herausbrachten, war ein Erfolg. Im Moment warten die Fans auf das dritte, das Ende dieses Jahres herauskommen soll.

Bereits auf eurem ersten Album singt ihr: «Au di huärä Apps heimer ds Wartä vrlehrt.» Könnt ihr, kannst du noch warten? Ohne Smartphone?
Apps werden ja so programmiert, dass wir möglichst viel Zeit damit verbringen. So kommen die Hersteller an möglichst viele Daten heran und können Werbung schalten. Dagegen kann ich mich natürlich auch nicht wehren und ertappe mich häufig dabei. Nein: Warten kann ich kaum noch ohne Smartphone.

Aber das ist nicht, weil du Jeans for Jesus in den sozialen Medien repräsentieren musst?
Nein, wir sind als Band nicht so aktiv auf diesen Kanälen. Ich lese oft Zeitungen, schaue manchmal Videos. Aber es ist trotzdem viel stumpfsinniges Zeug dabei.

Denkst du, dass mit dem Warten etwas verloren geht?
Ich beschwöre ungern die guten alten Zeiten herauf, deshalb: eher nicht. Nur die Aufmerksamkeit ist ein Problem. Lehrer, die ich kenne, meinen, es sei für die Schüler schwieriger geworden, einen Text zu lesen, sich eine Viertelstunde zu konzentrieren. Man kann diese Entwicklung natürlich nicht abschliessend beurteilen, und ich selbst war schon früher leicht abzulenken, wenn mich etwas nur bedingt interessierte. Ich finde einzig, die Langeweile sollte nicht verloren gehen.

Warten und Langeweile sind also etwas Wichtiges?
Genau, um sich in Geduld zu üben – oder, vor allem bei mir, der eher ungeduldig ist, um Einfälle zu haben. Und es ist auch etwas Schönes.

Nicht nur das Warten haben die Smartphones verändert. Streaming hat auch die Musikwelt auf den Kopf gestellt: Musik kann nahezu gratis abgespielt werden. Auf euren beiden Alben setzt ihr euch kritisch mit Konsum auseinander. Wie stehst du zu diesem neuen Musikkonsum?
Wir haben nie zu einer Zeit Musik gemacht, als man damit noch Geld verdienen konnte in der Schweiz. Deshalb hat der Wandel andere härter getroffen. Wir kennen Musikerinnen und Musiker, die noch Alben mit sechsstelligem Budget produzierten. Damals hat man mit zehntausend verkauften CDs hunderttausend Franken eingenommen. Wir sind nicht weit weg von diesem Bereich, aber verdienen quasi nichts. Doch man kann das nicht aufhalten, schon gar nicht als Einzelner. Ausserdem ist die Produktion grundsätzlich billiger geworden. Musikmachen ist damit viel breiteren Schichten zugänglich und ein Stück weit demokratisiert worden. Man braucht eigentlich nur noch einen PC und im Idealfall etwas Talent. Zudem ist Streaming eine Riesenchance, um anderes zu entdecken – und bekannter zu werden.

Was mich an der Schweizer Situation eher betrübt bezüglich Konsum ist, dass man unbedingt ein, zwei Songs schreiben muss, die vom Radio gespielt werden. Wenn man das nicht macht, ist man als Popband schnell unter dem Radar. Das führt zu vielen Kompromissen, die man auch bei uns hört. Estavayeah oder auch Wosch no chli blibä haben viel weniger Ecken und Kanten als andere Songs. Und bei Spotify wird dieser Effekt verstärkt. Mich erstaunt, wie viele Musiker mittlerweile sehr unauffällige Musik kreieren, die im Hintergrund gespielt werden kann.

Eine Veränderung in Richtung Quantität. Hat das Einfluss auf die Qualität?
Ich glaube, bei uns kaum; wir haben versucht, uns nicht gross darauf einzulassen. Aber natürlich ist der Einfluss spürbar. Hier kommt auch ein Stadt-Land-Graben ins Spiel: Viele Musiker, wie wir als Popband, die zeitgenössische, international geprägte Musik machen wollen, haben fast nur Erfolg in den Städten. Um in der ganzen Schweiz bekannt zu sein, gehen andere sehr viele Kompromisse ein und biedern sich an. Man hört, dass die Musik für eine breite Masse gemacht worden ist.

Auf internationaler Ebene passiert das Gleiche: Im Hinblick auf Streaming-Konsumenten haben Stars wie Drake oder Migos in den letzten Jahren ellenlange Alben mit durchschnittlich 25 Songs publiziert.
Genau, das passiert bei sehr vielen Musikern, die wir auch gerne hören. Und kurze Songs sind auch immer stärker verbreitet.

Auf eurem letzten Album «P R O» sind aber ebenfalls satte 18 Tracks zu hören.
Ja, das stimmt, aber das war kein Kalkül. Dieses Denken funktioniert bei unserer Grösse sowieso nicht, weil Streaming da finanziell unbedeutend ist. Wir wollten einfach keinen mehr streichen. Dafür hatten wir zu wenig Zeit vor dem Release. Eigentlich sollte man einen Monat Zeit haben, um etwas Abstand zu bekommen und danach noch drei, vier Songs zu streichen. Beim neuen Album wird es dafür aber auch nicht reichen.

Die Zeit drängt. Trotzdem habt ihr euch drei Jahre Zeit gelassen zwischen dem ersten und dem zweiten Album. War es ein bewusstes Warten?
Die Faustregel besagt eigentlich: zwei Jahre. Es gibt Bands, die bringen alle zwei Jahre ein Album heraus, weil sie davon leben wollen. Das wäre der ideale Zyklus mit Konzerten usw. Bei uns entsprechen die drei Jahre einem fast natürlichen Prozess. Wir sind alle voll berufstätig und unsere Art Musik braucht auch Zeit …

Was meinst du damit?
Unsere Musik ist insofern zeitgenössisch, als dass wir Instrumente und Stimmen am Computer extrem bearbeiten, Analoges und Digitales verschmelzen, bis wir mit der Klangästhetik zufrieden sind. Das dauert. Und die Sounds so auf die Bühne zu bringen, ist technisch relativ anspruchsvoll. Für unser letztes Live-Set haben wir z. B. das Licht über ein Computerprogramm mit der Musik gekoppelt, was komplizierte und zeitaufwendige Programmierprozesse nötig machte.

Und nun kommt euer drittes Album nach ebenfalls drei Jahren?
Ja! Wenn alles klappt, können wir im Herbst mit den Konzerten anfangen. In dieser Phase sind wir dann an den Weekends ein, zwei Abende weg, vielleicht noch eine Probe, dann ist die Zeit, die wir für Musik zur Verfügung haben, schon wieder weg. Das heisst: Erst nach einem Jahr Touren fängt man langsam wieder an, neue Musik zu machen.

Ihr habt also nicht gewartet, sondern braucht einfach diese Zeit.
Genau, es ist ein Zeit-Ding! Nur wenn die Musik dein Beruf ist, kannst du während der Tour bereits ein neues Album einspielen. Oder du gibst die ganze Freizeit weg.

Von der Musik leben, könnt ihr aber nicht?
Das können nur extrem wenige in der Schweiz und von denen, die es könnten, haben viele einen Job. Bei uns steht es nicht einmal zur Debatte. Ich verdiene vielleicht 10 000 Franken im Jahr, optimistisch gerechnet.

Es ist also mehr ein Hobby als ein Job?
Es ist keins von beiden. Es ist eine Leidenschaft. Wenn wir uns untereinander fragen, «Ist es für dich eigentlich nur ein Hobby?», ist das eher als Witz gemeint.

Wann seid ihr als Band sonst am Warten?
Auf Touren wartet man extrem viel. Meistens muss man bereits am Nachmittag im Club sein, man baut auf, dann wartet man und wartet und isst und wartet wieder.

Wir warten aber auch wegen unserer Arbeitsteilung viel aufeinander. Du machst etwas an der Musik oder am Text, schickst es an die anderen und wartest auf ein Feedback oder dass ein anderer daran weiterarbeitet.

Ist es das, was ihr als Dropbox-Band bezeichnet?
Genau, wir haben einfach etwa fünf Chats, in denen konstant Ideen und Musik hin- und hergeschickt werden. Da drehen Leute, die viel mit uns zu tun haben, fast durch. Alles andere wäre für uns aber nicht sinnvoll. Eine Rockband geht ins Studio und jammt. Bei uns hingegen macht in der Regel Phil eine Skizze, dann kommt der Song meist zu Demi und mir, wir schreiben Melodien mit einem Fantasietext, produzieren weiter. Dann geht der Song zurück,, hin und her. Meist werden zahlreiche Versionen und Skizzen erstellt, zum Teil sind weitere Musikerinnen und Musiker involviert. Die anderen arbeiten von überall an der Musik, Demi und ich von überall an den Texten. Wenn jemand etwas Neues gemacht hat, kann man das unterwegs hören und Feedback geben. Das ist sehr praktisch. Wir haben es immer sehr lustig im Chat. Bis KG alles zu einem Song giessen muss, was weniger lustig ist für ihn.

Dann seht ihr euch als Band gar nicht so oft?
Zu viert? Nein, nur etwa alle zwei, drei Wochen. Demi und ich sehen uns aber im Moment sehr oft, da wir zusammen die Texte schreiben. Und KG und Phil sehen sich wohl auch öfter.

Aber ihr habt schon ein Bandgefühl?
Ja, sehr. Wir gehen immer wieder zusammen weg. «P R O» entstand grösstenteils in Atlanta und Ende Juni sind wir ein paar Tage in Italien. Das sind die besten Momente.

Das klingt extrem locker. Verläuft auch eure Karriere so?
Nur beim ersten Album, denn es gab keinen Druck damals. Damit haben wir vielleicht 2010 oder 2011 angefangen, über Monate passierte manchmal nichts. Aber als «Estavayeah» ein solcher Hype wurde, mussten wir möglichst schnell das Album fertig machen – das war eine Hauruckübung – und auftreten. Wir waren überhaupt nicht darauf eingestellt, eine Band zu sein. Jeder war um die 25 Jahre alt und hatte viel privates Zeug los. Ich hatte damals gerade in der Wissenschaft Fuss gefasst. Erst im Verlauf der Tour haben wir richtig mitbekommen, was passiert war. Und für das zweite Album standen wir dann extrem unter Druck – gefühlt zumindest.

Auch Druck vom Label? Ihr seid ja bei Universal, keinem kleinen Label.
Nein, gar nicht, das sind nur Vorstellungen, die herumgeistern. Der Druck kommt eher von der positiven Presse, vom Feedback, den Erwartungen. Wenn du so gehyped wirst, musst du etwas Gutes machen, etwas Besseres. Wir finden, das zweite Album sei besser als das erste, aber es war viel schwieriger.

Je besser eure Musik wird, desto weniger könnt ihr abwarten und schauen, wie sich die Sache weiterentwickelt?
Das kommende Album wird recht viel entscheiden, zeigen, wie es weitergehen könnte. Es kann sein, dass wir ein, zwei Sachen im Ausland oder in der Westschweiz machen können, das wäre natürlich cool. Auf «P R O» sind ja bereits zwei Songs auf Französisch und wir haben Lust, mit der Sprache zu spielen. Wenn es aber im Rahmen der letzten Tour bleibt, nehmen wir uns vielleicht mehr Zeit und verlassen den bisherigen Zyklus, um etwas Anspruchsvolleres, Merkwürdigeres zu produzieren, wer weiss …

Zeit haben ist also trotz allem wichtig für die Qualität?
Extrem! Gleichzeitig schafft man manchmal nur unter Druck gutes Zeug. «Wosch no chli blibä» haben wir in drei Tagen gemacht. Kurz vor der Veröffentlichung von «P R O» hatten wir Krisensitzung. «Es ist kein einziger Song drauf, der am Radio laufen wird», sagte ich. «Dann müssen wir halt jetzt noch einen machen», meinte KG. Phil ging nach Hause und hat in einem Tag einen Beat produziert, Demi und ich in einem Tag einen Text … Zuviel Zeit ist auch nicht immer gut.

Schnell seid ihr auch im Aufgreifen technischer Entwicklungen.
Ja, wir finden das spannend. Etwa die Perspektive, dass Songs zusammen mit künstlicher Intelligenz (KI) geschrieben werden könnten. Es gibt aber auch eine grosse Retro-Bewegung, gerade im Feuilleton, die finden alte Geräte, Gitarren, 80er-Synthesizer gut. Einige Journalisten haben uns sogar angekreidet: soviel Digital-Bearbeitung …

Ihr wurdet aber auch sehr gelobt, mit Frank Ocean oder Kanye West verglichen.
Beides, ja. In der Musik sieht man wirklich, dass die Leute Angst haben oder sagen wir: ein Unbehagen der Technik gegenüber. Wir haben einmal am Geburtstag meiner Mutter gespielt. Die Leute dieser Generation mögen Rockbands. Es war mir nicht möglich, ihnen zu erklären, dass es im Grunde dasselbe ist wie Klavierspielen, wenn ich auf ein Pad schlage und dadurch vorprogrammierte Sounds auslöse. Es ist wohl ein Wahrnehmungsproblem. Die Unterscheidung von analogem und digitalem Klang ist schwierig. Vom Moment an, wo man auf eine Taste drückt, gibt es eigentlich keinen «natürlichen» Klang mehr.

Mit KI kommt aber trotzdem die Frage auf, ob es in Zukunft überhaupt noch einen Künstler oder eine Band wie euch braucht?
Es ist doch die Frage, wie man sie künstlerisch wertvoll einsetzt. Wir sind sehr fortschrittsoptimistisch und technikaffin, aber man muss natürlich beobachten, was die Programme leisten. Kanye West arbeitet schon heute vergleichbar: Seit Jahren lässt er von jedem Lied zig Versionen machen, von den Produzenten, die gerade am angesagtesten sind. Aber schliesslich muss jemand entscheiden: Das ist gut und das nicht. Bis KI das kann, wird es in meinen Augen noch recht lange gehen.

Vielleicht wird man das auch dann lieber selber tun, weil es Spass macht?
Ja, das wird superinteressant. Aber was auch sein kann, das sagt Demi immer, dass die Musik an Stellenwert verlieren wird. Die Kids hören heutzutage viel breiter Musik; offenbar geht die Identität nun eher über Videos und Games. Für uns gilt doch: Was man hört, das ist man. Als ich 15 war, bestand ein grosser Graben: Die einen hörten Rap, die anderen Rock. Das ist heute anders – finde ich eigentlich auch besser so.

 

Autoren
Éric und Yann Bolliger studieren an der ETH Lausanne Mikrotechnik resp. Informatik und sind grosse Fans der Band.

 

Website von Jeans for Jesus

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warten

Nicht von Pausen und Fermaten in der Musik, sondern vom Warten darum herum oder Musik zum Warten: von Vorgruppen über Muzak bis zur beruflichen Vorsorge.

Titelbild: www.neidhart-grafik.ch
warten

Nicht von Pausen und Fermaten in der Musik, sondern vom Warten darum herum oder Musik zum Warten: von Vorgruppen über Muzak bis zur beruflichen Vorsorge.

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Focus

Es ist ein Zeit-Ding!
Für Michael Egger, Sänger der Band Jeans for Jesus, und seine Kollegen ist Warten auf Tour und in ihrer Arbeitsweise Alltag. Interview

Sur scène pour faire attendre
L’expérience (parfois douloureuse) de jouer en première partie
Deutsche Übersetzung: Auftreten, um warten zu lassen
Über die (manchmal schmerzhafte) Erfahrung, als Vorgruppe aufzutreten

Abwarten ist ein schlechter Ratgeber
Bei der Pensionierung erhalten viele Musikschaffende nur kleine Renten

La musique qu’on entend mais qu’on n’écoute pas
La «musique de salle d’attente», créée pour nous faire passer le temps

Wie ein Sack Flöhe
Wie mit Kindern und Jugendlichen auf ihren Konzertauftritt warten?

… und ausserdem

RESONANCE


Lockere Souveränitä
t — 51. Wittener Tage für Neue Kammermusik

Musik aus dem Bernbiet — Urs Peter Schneider, Heinz Marti, Hans Eugen Frischknecht, und Heinz Holliger

Taghi Akhbari : « de coeur à coeur»

Max plays Miles — Max Jendly fonde un grand orchestre permanent

Wenn Frau will, steht alles still — Schweizer Frauenstreik am 14. Juni

Reise durch ein Meer von Möglichkeiten — Abschluss des Projekts «Looping Journey» an der Gare du Nord

Carte blanche per Zeno Gabaglio
dt. Übersetzung

 

CAMPUS

L’esprit du quatuor à cordes — la Swiss Chamber Academy

 

FINALE


Rätsel
— Dirk Wieschollek sucht


Reihe 9

Seit Januar 2017 setzt sich Michael Kube für uns immer am 9. des Monats in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb.

Link zur Reihe 9


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Walliser Förderpreis für Andreas Zurbriggen

Die Schauspielerin Annelore Sarbach wird mit dem Kulturpreis 2019 des Kantons Wallis ausgezeichnet. Die Förderpreise (je 10’000 Franken) gehen an drei junge Nachwuchstalente: die Historikerin Jasmina Cornut, den Tänzer Simon Crettol und den Musiker Andreas Zurbriggen.

Andreas Zurbriggen. Foto: Andrea Soltermann

Der 1986 geborene Andreas Zurbriggen ist klassischer Komponist und Musikjournalist. Der in Saas-Fee geborene und dort wohnhafte Künstler hat bei Daniel Glaus an der Hochschule der Künste Bern klassische Komposition und an der Universität Bern Musikwissenschaft, Geschichte und Kunstgeschichte studiert. Andreas Zurbriggens Musiksprache wurzelt in der Tradition, er integriert diese jedoch in einen aktuellen Kontext.

Zurbriggen komponiert Musik für verschiedenste Besetzungen: Vom Klaviersolostück bis zur Komposition für Orchester und Chor. Seine Werke wurden bereits an mehreren Festivals gespielt (Forum Wallis, Musikfestivals von Bern, Davos und Shanghai) und von renommierten Ensembles interpretiert (Ensemble Phoenix Basel, Ensemble Mondrian Basel, Flötenquartett Tétraflûtes, Russische Kammerphilharmonie St. Petersburg).

Stadt Luzern zeichnet Isa Wiss aus

Die Stadt Luzern vergibt ihren Kunst- und Kulturpreis 2019 (25’000 Franken) an die Autorin und Übersetzerin Christina Viragh. Die Sängerin Isa Wiss und der Schauspieler Patric Gehrig erhalten Anerkennungspreise (je 10’000 Franken).

Isa Wiss. Foto: André Brugger

Isa Wiss überzeuge als «ausserordentliche Stimmkünstlerin und Performerin», schreibt die Stadt. In ihrem vielseitigen künstlerischen Schaffen komme «die Vielseitigkeit ihrer Stimme, wie auch ihre Virtuosität, Kreativität und Neugier zum Ausdruck». Von Oper über Jazz und Volksmusik bis zu geräuschvollen Improvisationen sei sie in allen Genres eine überzeugende Performerin.

In den letzten Jahren hat Isa Wiss mehrere aufwändige Kinder-Musiktheater-Produktionen konzipiert und realisiert. Das aktuellste Projekt «Die Wörterfabrik» ist eine Zusammenarbeit mit den Musikern Vera Kappeler, Peter Conradin Zumthor und Luca Sisera. In der «Wörterfabrik» verbindet Isa Wiss ihre verspielte Musikalität mit ihrem virtuosen Umgang mit Sprache. Isa Wiss geniesst sowohl mit ihren eigenen Projekten wie auch als gefragte Gastmusikerin nationale Resonanz.

Reise durch ein Meer von Möglichkeiten

Nach «Chorlabor», das Laienchöre mit den zeitgenössischen Komponisten Matthias Heep, Leo Dick und Sylwia Zytynska zusammenführte, lancierte die Basler Gare du Nord ein Folgeprojekt. Abschliessend präsentierten Mitte Mai drei Chöre ihre aus der Improvisation entwickelten Musikstücke.

A. Schaerer, I. Wiss, Ch. Zehnder mit den Chören ATempo!, bâlcanto, Kultur und Volk. Foto: Ute Schendel,Foto: Ute Schendel,Foto: Ute Schendel,Foto: Ute Schendel

Kann ein Laienchor aus «nichts» einen ganzen Konzertabend gestalten? Dieser Herausforderung haben sich die Basler Chöre Kultur und Volk sowie bâlcanto und der Jugendchor ATempo! der Musikschule Basel improvisierend gestellt. Das Resultat der langen und teilweise auch mühsamen «Reise» war eine einstündige Performance: Sie wirkte berührend und witzig, manchmal aber auch etwas ratlos lassend.

Gemäss dem Konzept von Projektleiterin Johanna Schweizer erhielten die drei Chöre von der Gare du Nord und dem Kunstmuseum Basel einen «Freipass», in der Ausstellung Basel Short Stories. Von Erasmus bis Iris von Roten Inspirationen für ein zu entwickelndes Werk zu sammeln. In verschiedenen Etappen, sogenannten «Looping Journeys», wurden seit April 2018 drei neue Musikstücke kreiert. Dieser Prozess erforderte eine gehörige Portion Mut, wenn man etwa im Rhein schwimmend Sännelä hojahoo singen musste.

Unterstützung bei diesen Abenteuern erhielten die Chormitglieder von drei Cracks der improvisierenden Musikszene, den Stimmperformern Christian Zehnder und Andreas Schaerer und der Sängerin Isa Wiss. Sie führten die Choristinnen und Choristen durch ein schier endloses Meer von Geräuschen und Gestaltungsmöglichkeiten. «Für viele Teilnehmende war die improvisatorische Freiheit eine grosse Herausforderung, in der sich vor allem am Anfang einige von ihnen verloren fühlten», erläuterte Schweizer.

Zudem sollten die Chöre einen Weg finden, die neu entwickelte Musik auf Papier festzuhalten – eine Annäherung an grafische Notationen also. Das Resultat gestaltete sich dann aber anders, denn den Leitfaden des Abends bildeten Videosequenzen von Paula Reissig, die unaufgeregt und gewieft Takt und Inhalt vorgaben – Improvisation und Struktur sollten sich so ergänzen, zumal Texte fehlten, was dem Publikum das Verständnis etwas erschwerte.
 

Drehende Bewegungen auf dem Eis

Die gewählten Themen spiegelten in auffallender Weise den Charakter des jeweiligen Chors, der seine Stärken so in die Performance einbrachte. Der Abend begann mit dem Chor Kultur und Volk, der zum Film Frick und Frack über das Basler Eisläufer-Duo Werner Groebli und Hansruedi Mauch improvisierte. Passend dazu amtete als Coach der auf neue alpine Musik spezialisierte Christian Zehnder.

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Chor Kultur und Volk mit Christian Zehnder

In Reissigs Video waren weniger die Kapriolen der Eiskunstlaufhelden zu sehen, als das sie umjubelnde Publikum. Stimmige, in sich drehende, manchmal etwas langatmige Sequenzen, die der Chor mit spielerischen Bewegungen und Tonfragmenten untermalte: In drei Gruppen eingeteilt, wurde geklatscht, geraunt und im Rhythmus «gesungen». Es war eine durch Bilder initiierte Abfolge, die in einem Jodellied, dem «Zuger», gipfelte.

Improvisierend ins Delirium

Etwas schwieriger gestaltete sich die Wahl des Jugendchors ATempo!, der sich unter der Leitung von Andreas Schaerer mit dem Erfinder des LSD, Albert Hofmann, auseinandersetzte. Liegende, an der Minimal Music orientierte Gesangslinien begleiteten und untermalten Videoeinspielungen, die abstrakte Frequenzkurven zeigten oder Laboransichten mit einer sich drehenden Metalltonne. Wenig Entwicklung also, Längen waren eigentlich vorprogrammiert.

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Andreas Schaerer und der Jugendchor ATempo! der Musikschule Basel

Zur Einstimmung auf ihr Projekt hatten die Jugendlichen Verkehrsgeräusche am Wettsteinplatz erforscht oder im Badischen Bahnhof zu «Rausch und Delirium» improvisiert. Als Folge äusserten zwei junge Chorsänger, sie würden nun mutiger singen, «egal, was die anderen denken». Gemeinsam gelang es dem Chor, die inneren Vorgänge in Bewegung zu bringen, etwa durch das kreuzweise aneinander Vorbeilaufen mit an- und abschwellenden Gesangskurven, mit Dissonanzen und Konsonanzen.

Stimmcollage als Friedenssuche

In eine ganz andere Welt entführte unter der Führung von Isa Wiss bâlcanto, ein international zusammengesetzter Chor. Er wählte den zivilreligiösen Aspekt des Basler Friedenskongresses 1912. Ein abstraktes Thema also, zu dem Fotos zur Verfügung standen, aber keine «laufenden Bilder». Trotzdem wurde die Performance dank einer choreografierten Bewegungsabfolge und den neuen Videosequenzen zu einer gelungenen «Demonstration».

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bâlcanto

Aus dem Nichts stapften die Akteure auf das Podium, begannen leise und dann immer lauter zu nuscheln, einzelne Wortfetzen wie «Gerechtigkeit» oder «Volk» schwirrten durch die Luft und im Tohuwabohu begann eine Frau laut zu krächzen. Dazwischen entwickelte sich ein berührender Choral. Das Stück schloss mit einer Glockenimprovisation, zu der sich nach und nach alle Beteiligten auf die Bühne begaben.

Es folgte eine Schlussimprovisation, bei der man die rahmengebenden Videoeinspielungen leicht vermisste. Für die Teilnehmenden aber war wohl gerade dieser Schluss wichtig, wie es eine Chorsängerin formulierte: «Das Zusammentreffen der Chöre! What an inter-generation project!»
 

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