Sperrung urheberrechtsverletzender Seiten

Das Landesgericht München hat entschieden, dass die Telekom, die als Internet Service Provider den Zugang zu nachweislich urheberrechtsverletzenden Websites wie goldesel.to ermöglicht, den Zugang zu der Website mittels DNS-Blocking sperren muss.

Foto: Lupo / pixelio.de (s.unten)

Laut dem deutschen Bundesverband Musikindustrie (BVMI) ist dies erstmals in einem Hauptsacheverfahren entschieden worden. Das Urteil stehe in einer Reihe mit der aktuellen Rechtsprechung des Oberlandesgerichts München, nach der Vodafone den Zugang zu der illegalen Webseite kinox.to sperren muss.

Strukturell rechtsverletzende Webseiten verfügen laut BVMI in der Regel über kein Impressum und keine zustellungsfähige Adresse. Den Betreibern gehe es darum, rechtsverletzende Inhalte anzubieten, um damit einen hohen Internet-Traffic und Werbeerlöse durch das Schalten von Werbebannern und so weiter zu generieren.

Foto: Lupo / pixelio.de

StradivariCONTEST in Schwyz

Im Juli führt das StradivariQuartett in der Innerschweiz neu einen Wettbewerb durch und zwar kombiniert mit der letztes Jahr erstmals durchgeführten Meisterklasse.

Foto (Ausschnitt): Marco Borggreve,SMPV

Vom 20. bis 23. Juli 2019 lädt das StradivariQuartett zum zweiten Male zum Besuch der StradivariCLASS ein. Was vor einem Jahr mit über 30 teilnehmenden jungen Musikerinnen und Musikern begann, erlebt im kommenden Sommer eine erweiterte Auflage. In individuell auf den Stand von Berufs- und Laienmusikern angepassten Meisterkursen unterrichten die Mitglieder des renommierten Stradivari Quartetts Xiaoming Wang und Sebastian Bohren (Violine), Lech Antonio Uszynski (Viola), Maja Weber (Violoncello) sowie Per Lundberg (Klavier). Neben den instrumentalen Fächern kann auch Sologesang belegt werden. Dieses Jahr werden erstmals Meisterkurse für Streicherkammermusikensembles erteilt. Alle Meisterkurse finden in den Räumlichkeiten der Kantonsschule «Kollegi Schwyz».

Neu: Wettbewerb, Studentenkonzerte und Preisträgerkonzert

Die Teilnehmenden der StradivariCLASS können sich am 18. und 19. Juli 2019 im Rahmen des StradivariCONTEST der Beurteilung einer Jury stellen. Ihnen winken attraktive Preise und die Möglichkeit, im Preisträgerkonzert im Seehotel Waldstätterhof Brunnen aufzutreten. Alle Teilnehmenden der StradivariCLASS erhalten zudem einen Pass für 5 Konzerte des StradivariFESTES Gersau.

Im Anschluss an den StradivariCONTEST und die StradivariCLASS findet das StradivariFEST in Gersau und Umgebung vom 24. bis 28. Juli statt.
 

Polyfonie im 21. Jahrhundert

Mitte Mai trafen sich über 1300 Fachleute des Klassiksektors an der Classical:NEXT in Rotterdam.

Foto: Eric van Nieuwland / Classical:NEXT

Mit dem Ausruf Hear it New! als Untertitel eröffnete National Sawdust, ein Veranstalter aus Brooklyn, die diesjährige Classical:NEXT. Im Konzerthaus De Doelen der Stadt Rotterdam trafen sich zum achten Mal Branchenvertreter zu einem viertägigen intensiven Austausch. Diese Mischung aus internationaler Messe, Konferenz und Konzertformaten bietet dem vielgestaltigen Sektor «Klassische Musik» Themen und Raum. Der persönliche Kontakt, das intensive Netzwerken und die Möglichkeit, neue Initiativen zu entdecken, machen für die mehr als 1300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer den Reiz dieser Konferenz aus, ganz gleich, ob sie Institutionen mit kleinem oder grossem Budget vertreten. Der Gemeinschaftsstand «Swiss Music» bot einer Vielzahl von Schweizer Labels, Ensembles, Festivals und Verbänden die Möglichkeit, sich international zu präsentieren. Organisiert wurde er wie schon in den Vorjahren von der Fondation Suisa, Pro Helvetia und der Schweizerischen Interpretengenossenschaft.
Erstmals fand eine Higher Music Education Pre-Conference mit Vertretern der Musikindustrie statt, eine der raren Begegnungen von Ausbildung und Marktanbietern im Klassiksektor. Die Einbindung der Hochschulen ist essenziell; das Netzwerktreffen des Europäischen Verbands der Musikhochschulen AEC wurde von John Kieser, New World Symphony (CAN), geleitet.
 

Tendenzen des digitalen Musikgeschäfts

Im dichten Konferenzprogramm wurde vertieft über die anhaltenden Herausforderungen des digitalen Marktes diskutiert. Noch immer beispielsweise stehen viele Institutionen und Ensembles vor der Frage, wie ein erfolgreiches digitales Marketing zu leisten sei. Streaming des Live-Konzerts (London Symphony Orchestra)? CD-Produktion oder einmal im Monat ein Track für die Fans (National Youth Choir GB)? Podcast, App, Probenvideos oder professioneller Multi-Media-Auftritt inkl. kuratiertem Backstage-Angebot? Clevere Kommunikation sollte neue (jüngere) Hörer erreichen, das Fundraising unterstützen (für erfolgreiches Crowdfunding ist gutes Storytelling unerlässlich) und die treuen Fans nicht vernachlässigen.

Noch unbestritten ist das Ziel aller kommunikativen Bemühungen: Das «Live-Konzert» soll auch in der Zukunft als Herzstück erhalten bleiben. Kritische Stimmen zu Fragen des Dark Social Web oder nicht beeinflussbaren Algorithmen waren hier nicht zu vernehmen.
 

Frauen weiterhin unterrepräsentiert

Ein Schwerpunkt waren Panels zum Thema Diversität und Gender Equality. Das Austauschformat «Women in Music Breakfast» (Southbank Centre London) hatte ganz ausgesprochen das Thema Geschlechtergerechtigkeit im Fokus. Die Komponistinnen Brigitta Muntendorf und Anna Meredith sprachen mit Gillian Moore über Hürden der beruflichen Entwicklung und Wege, diese zu umgehen. Beide Musikerinnen arbeiten als Multimediakünstlerinnen, haben mangels anderer Möglichkeiten ihre eigenen Ensembles und Formate entwickelt und stützen sich auf gewachsene Gruppen von Fans und Supportern.

Lydia Connolly (HarrisonParrott) fragte, ob auf dem Konzertpodium denn schon Gleichheit in Sichtweite sei. Wenngleich Erfolgsgeschichten wie die von Mirga Gražinytė-Tyla, Alondra de la Parra oder Simone Young unterdessen auch einem breiteren Publikum geläufig sind: In Grossbritannien wurden und werden bisher 5.5 Prozent aller klassischen Konzertprogramme (gelistetet von der Royal Philharmonic Society) von Dirigentinnen geleitet – ein frustrierender Befund. James Murphy betonte denn auch zu Recht, dass nicht die Zeit für eine Veränderung sorge, sich also die Verantwortlichen endlich aus den Komfortzonen begeben und handeln müssten, wollten sie nicht als Relikte eines patriarchalischen Systems weiter die immer ähnlichen Produkte und Programme auf einen übersättigten Markt drücken.

Die Zurückweisung von Zuschreibungen (beispielsweise als «Black Female Composer») sei nicht zielführend und koste, so die australische Dirigentin Nathalie Murray Beale, zu viel Energie. Rollenvorbilder seien unerlässlich, Frauen sollten erzählen, wie (schwer) der Weg zum Erfolg sei –Verschweigen helfe nicht, die Öffentlichkeit solle gesucht und genutzt werden, um immer wieder die Ungleichheiten zu benennen.

Auch im Panel «Composer Gender Equality» erklärte Claire Edwardes, Künstlerische Leiterin des Ensemble Offspring (Australien), dass es einfach keinen Grund gebe, Musikformate und -programme der Gegenwart nicht ausgeglichen zu entwerfen. Aber auch hier zeigt die Realität (s. Donne Women in Music 2018), dass die führenden Orchester und Konzerthäuser durchwegs nur ca. 5 Prozent Werke von Komponistinnen aufführen.
 

Konzerte und Preise

Die Konferenz war ergänzt durch Show Cases (berührend: «Duets with Jim» der niederländischen Sängerin Andrea van Beek; voller Elan: das Stegreif-Orchester Berlin), abendliche Konzerte (besonders: «Stalin’s Piano» mit Sonya Lifschitz und Robert Davidson) und Clubprogramme (u. a. ein Schweizer Act: reConvert).

Mit Innovation Awards wurden in diesem Jahr ausgezeichnet: die PRS Foundation für ihre internationale Initiative «Keychange» zur Erreichung einer 50:50-Situation in Musikinstitutionen und -festivals, Umculo, eine in Berlin ansässige Initiative für Opernproduktionen mit südafrikanischen Communities und das chilenische Kollektiv Resonancia Femenina.

Die nächste Classical:NEXT findet vom 13. bis 16. Mai 2020 statt.
 

Luzerns erste Selektive Produktionsförderung

Die Fachjurys der selektiven Produktionsförderung des Kantons Luzern haben in der ersten Ausschreibungsrunde in den Sparten Musik, Theater/Tanz und Programme von Kulturveranstaltenden acht Ausgezeichnete erkoren.

Band Tanche. Foto: zVg

In der ersten Ausschreibungsrunde wurden im Bereich der selektiven Produktionsförderung 2019 drei Ausschreibungsverfahren durchgeführt: in den Sparten Musik, Theater/Tanz und Programme von Kulturveranstaltenden. Eine Fachjury aus inner- und ausserkantonalen Experten hat die eingegangenen Dossiers beurteilt und insgesamt 230’000 Franken gesprochen. Die Förderbeiträge gehen an folgende Projekte:

Theater/Tanz (8 Bewerbungen)
– BAZOOKA BANDI: «Raffzahn Jack und die Rächer der Gartenbausiedlung», 40’000 Franken. Patric Gehrig, Julia Schmidt. Mit: Jürg Plüss, Blind Butcher, Saskya Germann, Michael Eigenmann, Corinne Odermatt, Madleina Cavelti, Sonja Eisl, Bureau Substrat

– Dlaboha und die Seilschaft: «Zytologie 1/3 – die performative Urzelle», 40’000 Franken. Damiàn Dlaboha. Mit: Christine Glauser, Moritz Achermann, Lion-Russell Baumann, Judith Florence Ehrhardt, Timo Keller, Gilda Laneve, Elke Mulders, Jules Gisler

– I-Fen Lin: «findet Jetzt statt», 40’000 Franken. I-Fen Lin. Mit: Beatrice Fleischlin, Sebastian Elias Kurt, Kim Emanuel Stadelmann, Patrik Zosso, Kevin Schneeberger, Laura Ritzenfeld

Musik (21 Bewerbungen)
– Alois: Release und Promo, 20’000 Franken. Martin Schenker, Florian Schneider, Lukas Weber, Pascal Eugster. Mit: Dominik Meuter, Moritz Flachsmann
– GeilerAsDu: Album «Fyre Festival Diaries», 20’000 Franken. Luzian Rast, Mike Walker, Fabrizio Zihlmann, Jwan Steiner, Raphael Fluri
– Tanche: Album «Tanche», 20’000 Franken. Christian Zemp, Jonas Albrecht, Elischa Heller, Chadi Messmer

Programme von Kulturveranstaltenden (10 Bewerbungen)
– Konzertkeller im Schtei: «im Schtei im Exil», 20’000 Franken. Marco Sieber, Erich Brechbühl, Remko van Hoof, Marcel Gabriel. Mit: Helen Sieber, Miriam Wicki, Markus und Cornelia Brechbühl, Cyrill Bühlmann, Silvia Fleischlin, Andreas Steiner, Roger und Claudia Bühlmann, Lukas und Martina von Dach, Denise Gabriel, Maria Joller
– Verein aha Festival: «aha Festival», 30’000 Franken. Christoph Fellmann, Ana Matjasevic. Mit: Patrick Brigger, Cornelia Kazis, Valentin Groebner, Mikael Krogerus, Julia Reichert

Ausschreibungen der selektiven Produktionsförderung im Juni 2019
Die zweite Ausschreibungsrunde des Jahres 2019 hat bereits begonnen und betrifft die Sparten Musik, Theater/Tanz, Jahresprogramme von Verlagen sowie Werkbeiträge der Freien Kunst und der Angewandten Kunst: Grafik und Design. Zur Verfügung steht eine Beitragssumme in der Höhe von insgesamt 350’000 Franken, die sich wie folgt verteilt:

– Förderbeiträge der Ausschreibung Musik werden für Veröffentlichungen, die ab Januar 2020 erscheinen, und die damit verbundenen Aufwände für Promotion und Distribution vergeben. Total steht eine Beitragssumme von 60’000 Franken zur Verfügung.

– Mit Beiträgen der Ausschreibung im Bereich Theater/Tanz von insgesamt 120’000 Franken sollen professionelle Theater- und Tanzschaffende und deren Produktionen, die erstmals ab Januar 2020 zur Aufführung kommen, unterstützt werden.

– Die Ausschreibung Jahresprogramme von Verlagen dient der Förderung von Jahresprogrammen von Verlagen mit kulturellem Schwerpunkt (in den Bereichen Literatur, Musik, Kunst, Design, Comic und Fotografie) in den Jahren 2020 und 2021. Total steht eine Beitragssumme von 40’000 Franken zur Verfügung.

– Mit der Ausschreibung Freie Kunst können Werkbeiträge von 70’000 Franken vergeben werden. Mit der Ausschreibung Angewandte Kunst werden Werkbeiträge an Kunstschaffende aus den Bereichen Illustration und Animation von insgesamt 60’000 Franken vergeben.

Kulturleitbild 2020–2023 der Stadt Zürich

Der Zürcher Stadtrat hat die Schwerpunkte in der Kulturförderung für die nächsten vier Jahre festgelegt. Es soll mehr kostengünstige Proberäume für Musikerinnen und Musiker geben. Die Tonhalle Gesellschaft Zürich soll in eine gemeinnützige Aktiengesellschaft überführt werden.

Foto: Austin Neill / Unsplash (s. unten)

Für die Jahre 2020 bis 2023 setzt die Stadt Zürich vier kulturpolitische Schwerpunkte: Sie will Rahmenbedingungen verbessern, die Kulturförderung beweglicher machen und neue Förderformen erproben, die Gesamtsicht in der Förderung stärken und die kulturelle Teilhabe verbessern.

Die Stadt will beispielsweise mehr kostengünstige Proberäume für Musikerinnen und Musiker zur Verfügung stellen. Einzelne Institutionen sollen höhere Beiträge erhalten, um ihre Aufgabe auch in Zukunft erfüllen zu können. Um grösseren Spielraum für die Gewinnung von privaten Mitteln zu erhalten, soll die Tonhalle Gesellschaft Zürich in eine gemeinnützige Aktiengesellschaft überführt werden.

Die Kulturförderung will laut der Mitteilung der Stadt zudem rascher und flexibler auf neue Entwicklungen reagieren können. Bewegliche und zeitgemässe Förderinstrumente sollen «innovatives, kreatives Denken und Handeln beleben». Auch die Kulturförderung muss ihre Förderinstrumente, Prozesse und Kriterien überprüfen. Dies geschieht in der nächsten Leitbildperiode unter Beteiligung junger Künstlerinnen und Künstler in einem Prozess mit experimentellem und laborartigem Charakter. So sollen neue Formen der Förderung rasch und unkompliziert erprobt werden.

Die Stadt Zürich will die Gesamtsicht auf die Förderlandschaften stärken. Institutionelle und projektbezogene Förderung werden verbunden und ergänzen sich. Modellhaft dafür steht das Projekt «Tanz- und Theaterlandschaft Zürich», das die Kulturabteilung unter breitem Einbezug der Beteiligten 2017/18 durchgeführt hat. Als Resultat des Projekts will der Stadtrat in der Leitbildperiode 2020−2023 ein neues Fördersystem für Tanz und Theater einführen. Dessen Kernstück ist eine Konzeptförderung, über die Förderbeitrage mit verschiedenen Laufzeiten gesprochen werden. Mit ihr erhalten neue Initiativen bessere Chancen, die Freie Tanz- und Theaterszene wird gestärkt.

Weitergeführt wird der Schwerpunkt «Teilhabe stärken, Diversität leben» aus der letzten Leitbildperiode 2016–2019: Das kulturelle Angebot in Zürich soll sich möglichst breit an verschiedenste Gruppen der Gesellschaft wenden. Vorgesehen ist unter anderem die stärkere Förderung kultureller Eigeninitiativen in den Aussenquartieren.

Über zahlreiche der geplanten Massnahmen wird der Gemeinderat entscheiden, in einigen Fällen braucht es Gemeindeabstimmungen.
 

Im Labyrinth des Bösen

Giorgio Battistellis Musiktheaterstück «I Cenci» erlebte am 26. Mai im LAC Lugano seine Schweizer Erstaufführung als Koproduktion von LuganoInScena und der Konzertreihe 900presente des Conservatorio della Svizzera Italiana.

© LAC Lugano,© LAC Lugano

Ein Atemgeräusch, einige flackernde Klänge, ein unterdrückter Schrei, eine expressionistische Ostinatofigur: Giorgio Battistelli ist ein Meister darin, mit wenigen Klangzeichen eine unverwechselbare Atmosphäre zu schaffen, und in seinem Musiktheaterstück I Cenci kündigt sich gleich in den ersten Takten etwas von jenem beklemmenden Gefühl an, das sich in den folgenden Fünfviertelstunden im Zuschauerraum ausbreiten wird. Die Handlung des Vierpersonenstücks, das 1997 am Almeida Theatre in London in englischer Sprache uraufgeführt wurde und nun in Lugano seine schweizerische Erstaufführung erlebte, ist ebenso lapidar wie brutal. Sie spielt im Rom der Renaissancezeit, und im Zentrum steht der korrupte und moralisch verkommene Graf Cenci. Er vergewaltigt seine Tochter Beatrice, diese ermordet ihn mit Unterstützung ihrer Mutter und ihres Verlobten und wird schliesslich hingerichtet. Die üble Geschichte beruht auf realen Ereignissen aus dem Jahr 1599. Damals gab es einen lachenden Dritten, den Papst. Er nutzte den Ruin der Familie, um an das Vermögen Cencis, mit dem er geschäftlich verbunden war, heranzukommen.

Der Stoff inspirierte 1820 bereits Shelley zu einem Theaterstück und 1837 Stendhal zu einer Novelle in seinen Chroniques italiennes. Nach diesen beiden Quellen schuf Antonin Artaud 1935 seinen Vierakter Les Cenci, und der diente wiederum Battistelli als Vorlage für sein Libretto. Artaud hat die Geschichte ins Monströse zugespitzt, und die fragmentarisch kurzen Sätze, die Battistelli aus dem Originaltext destilliert hat, wirken stellenweise wie Stiche ins lebendige Fleisch. Artauds Idee eines «théâtre de la cruauté», das die Affekte im Rohzustand und von allen Konventionen befreit zur Wirkung bringen soll, bleibt in Battistellis artifizieller Lesart allgegenwärtig. Graf Cenci, von Roberto Latini als kühl berechnendes Scheusal dargestellt, ist ein triebhafter Egomane, der sich die Vergewaltigung der Beatrice (Elena Rivoltini) als Zerstörung ihres Ichs ausmalt. Wenn er über seine Gefühle monologisiert, reisst er die Erzählperspektive an sich, und wir steigen mit ihm hinunter in die tiefsten Abgründe seiner Psyche. In solchen Momenten schlägt der erschreckend genaue Blick Artauds auf das Böse im Menschen voll durch.
 

Bedeutungsvoller Raumklang

Die Bühnenerzählung hat Battistelli kunstvoll aufgespalten in Text, Musik und Szene. Mit dem Verzicht auf Gesang – die vier Darsteller haben reine Sprechrollen – hat er ein Melodram geschaffen, das durch Mikrofonierung und Live-Elektronik eine räumliche Dimension erhält. Während durch die Sprechrollen das Geschehen wie im epischen Theater auf Distanz gerückt wird, entfaltet sich das emotionale Potenzial des Dramas in erster Linie in der Musik. Sie kommentiert und vertieft das Gesprochene auf wirkungsvolle Weise, aber ohne jede Überhitzung. Als weiteres Element hat Battistelli auch Bildprojektionen vorgesehen.

Die Inszenierung durch Carmelo Rifici konnte von der konzeptionellen Offenheit der Vorlage profitieren und tendierte zum Multimediatheater. In den Videoprojektionen von Francesco Puppini, die simultan auf mehreren Bildschirmen liefen, wurden die im Text angesprochenen und szenisch nur angedeuteten Handlungen als Filmsequenzen in Schwarzweiss dargestellt. Man folgte der Kamera durch lange Korridore, Treppenaufgänge und Zimmerfluchten eines menschenleeren Palastes – eine klinisch saubere, alptraumhafte Szenerie, in der der Hausherr herumgeisterte wie Minotaurus in seinem Labyrinth, in der er seiner Tochter nachstellte und sie schliesslich wie ein verängstigtes Wild zur Strecke brachte. Um die schwarze Perspektive am Schluss etwas aufzuhellen, liess man in Lugano als Epilog noch eine Solotänzerin (Marta Ciappina) ihre poetischen Kreise ziehen – Beatrice sollte nicht sterben.

Zur dramatischen Verdichtung und zugleich räumlichen Ausweitung des Geschehens trug entscheidend der von Fabrizio Rosso (Klangregie) sowie Alberto Barberis und Nadir Vassena (Live-Elektronik) sorgfältig modellierte Raumklang bei. Er überwölbte den ganzen Zuschauerraum, insgesamt waren über zweihundert Einstellungen vorprogrammiert. Die Stimmen und Instrumente wurden diskret verstärkt, stellenweise auch klanglich transformiert und wanderten im Raum. Die Unheil verkündenden Schritte Cencis im leeren Palast zogen über den Zuschauerreihen ihre Kreise. Francesco Bossaglia am Dirigentenpult hielt die komplexen musikalischen Verläufe jederzeit fest im Griff.
 

Bereicherung des Tessiner Kulturlebens

Die sehr gut besuchte Aufführung im grossen Saal des neuen LAC war eine Koproduktion der Theatervereinigung LuganoInScena, welche die professionellen Schauspieler engagiert hatte, und der Konzertreihe 900presente. Die dem Conservatorio della Svizzera Italiana angeschlossene Konzertreihe, die heuer ihr zwanzigjähriges Bestehen feiern kann, stellte die sechzehn Instrumentalisten, alles fortgeschrittene Studierende, sowie das umfangreiche technische Team, das an der klanglichen und visuellen Realisierung beteiligt war.

Mit Battistellis I Cenci hatte man sich an ein anspruchsvolles Projekt herangewagt, zumal was die heikle Raumakustik betrifft. Dass es so erfolgreich über die Bühne ging und schliesslich eine Aufführung von beeindruckender Geschlossenheit zustande kam, ist nicht zuletzt der harmonischen Zusammenarbeit und dem grossen Engagement aller Beteiligten zu verdanken.

Solche öffentlichen Aufführungen zeitgenössischer Werke bilden seit einigen Jahren eine deutliche Bereicherung des Tessiner Musiklebens. Das Conservatorio della Svizzera Italiana setzt die Reihe noch in diesem Jahr fort mit einer Aufführung von Schostakowitschs Siebter in einer Koproduktion mit der Zürcher Hochschule der Künste. Im nächsten April folgt dann in Zusammenarbeit mit den Hochschulen in Lausanne und Genf eine szenische Aufführung von Luciano Berios Coro für vierzig Stimmen und Instrumente mit anschliessender Tournee in der Westschweiz.
 

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Erneute Klanghaus-Abstimmung

Sagen die St. Galler Stimmberechtigten am 30. Juni Ja zum Bauvorhaben, werden die Bauarbeiten für das Klanghaus 2021 doch noch starten, nachdem ein erster Anlauf politisch scheiterte. 2023 soll es fertiggestellt werden.

Simulation «Klanghaus in der Landschaft»: nightnurse images, Zürich (Archiv)

Das Gebäude ist als Holzkonstruktion geplant. Das Raumprogramm umfasst vier  Klangräume, die wie ein Instrument gestimmt werden können. Zudem gibt es zwei Aussenbühnen für Musikexperimente im Freien. Das Klanghaus soll am heutigen Standort des Hotels Seegüetli am Schwendisee oberhalb von Unterwasser entstehen. Im Vergleich zum Hotel wird das Klanghaus weiter entfernt vom See erstellt. Durch den Abbruch des Hotels und aufgrund der besonderen Architektur wird das Landschaftsschutzgebiet am Schwendisee aufgewertet.

60 bis 80 Teilnehmende können das Klanghaus je Kurstag nutzen. Drei Gruppen können gleichzeitig ungestört voneinander arbeiten. Das breite Publikum wird das Klanghaus im Rahmen von Führungen erleben können. Zudem sind Werkstattkonzerte geplant, und es wird möglich sein, die Räume für Bildungs-, Vereins- und Firmenanlässe rund um das Thema Klang zu nutzen.

Der Kanton plant das Klanghaus als Bauherr. Die Klangwelt Toggenburg wird das Haus auf eigene Kosten betreiben. Die Gesamtkosten für das Projekt betragen 23,3 Millionen Franken. Davon finanziert die Klangwelt Toggenburg 1 Million Franken. Für den Kanton verbleibt ein Kreditbedarf von 22,3 Millionen Franken. 2016 scheiterte das erste Projekt zum Bau des Klanghauses Toggenburg in der Schlussabstimmung des St.Galler Kantonsparlamentes.

 

Gründung des Zentrums für künstlerische Nachlässe

Mit dem Zentrum für künstlerische Nachlässe (ZKN) wird in Zürich eine Institution ins Leben gerufen, die sich der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Nachlässen der Bereiche Kunst, Musik und Literatur widmet.

Foto: PS,SMPV

Gegründet wurde das ZKN vom Rechtsanwalt Florian Schmidt-Gabain und vom Literaturwissenschaftler Thomas Strässle, welche das ZKN als Präsident und Vizepräsident leiten.Unterstützt werden die beiden Gründer durch ein Advisory Board bestehend aus Lionel V. Baldenweg, Michael Haefliger, Beatrix Ruf und Julia Voss. Organisiert ist das ZKN als Verein mit Sitz in Zürich, Schweiz.

Am 21. November 2019 findet die Eröffnungskonferenz des ZKN im Kunsthaus Zürich statt. Themen sind die Nachlässe von Hilma af Klint, Emil Bührle und Max Frisch. Vorgestellt wird auch der Nachlass von Charlie Chaplin, der – was oft wenig bekannt ist – seine Filmmusik selbst komponiert hat. Es referiert dazu Kate Guyonvarch, die Direktorin des Chaplin Office Paris.

Mehr Infos: www.zkn.ch

Britisch-schweizerische Sinfonikerin

Ruth Gipps war eine unglaublich vielseitige Musikerin, die hierzulande kaum bekannt ist. Auf der vorliegenden CD kann man sie als Komponistin von opulenten, emotional ergreifenden Orchesterwerken erleben: Sinfonien Nr. 2 und 4, Song for Orchestra, Knight in Armour

Ruth Gipps. Foto: Courtesy of the Ruth Gipps Collection

Fast trotzig hielt man in Grossbritannien im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern auch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg an der traditionellen tonalen, meist viersätzigen Sinfonie fest. Von der grossen Zahl an britischen Werken dieser Gattung konnten sich auf dem Kontinent allerdings fast nur diejenigen von Ralph Vaughan Williams und William Walton einigermassen etablieren. Die Sinfonien so hervorragender Komponisten wie Arnold Bax, York Bowen oder Michael Tippett werden hierzulande kaum zur Kenntnis genommen, geschweige denn aufgeführt. Dass auch eine Komponistin – Ruth Gipps – in diesem Bereich Bemerkenswertes geleistet hat, dürfte sogar den meisten Kennern der britischen Musik entgangen sein. Chandos hat jetzt eine CD mit ihrer 2. und 4. Sinfonie und zwei kurzen Orchesterwerken veröffentlicht, was sehr verdienstvoll ist, weil hier eine wirkliche Repertoirelücke geschlossen wird.

Ruth Gipps (1921–1999), deren Musik in Form, Harmonik und Klang ganz in der englischen Tradition steht, ist eine halbe Schweizerin. Ihre Mutter Hélène Johner studierte als angehende Pianistin in Frankfurt, wo sie ihren zukünftigen Mann Bryan Gipps kennenlernte. Sie stammte aus Basel und ihre Mutter war eine Caroline von Weissenfluh aus Meiringen. Ruth zeigte als Kind aussergewöhnliches Talent für die Musik: Ihr erstes verlegtes Klavierstück, The Fairy Shoemaker, komponierte sie mit acht Jahren. Als junge Frau studierte sie Komposition bei Ralph Vaughan Williams und Gordon Jacob, ausserdem Oboe bei Léon Goossens. Sie war so vielseitig begabt, dass sie 1945 bei der Uraufführung ihrer ersten Sinfonie durch das City of Birmingham Orchestra, dessen Mitglied sie damals als Oboistin und Englischhornistin war, nicht nur im Orchester spielte, sondern auch als Solistin das erste Klavierkonzert von Alexander Glasunow interpretierte. Später gründete sie das London Repertoire Orchestra, das sie während Jahrzehnten dirigierte, ein Ensemble, das jungen Berufsmusikerinnen und -musikern die Chance geben sollte, das sinfonische Repertoire kennenzulernen. Ausserdem war sie an drei Musikhochschulen eine geschätzte Kompositionslehrerin.

Alle Werke auf der CD sind hörenswert und werden vom BBC National Orchestra of Wales unter der Leitung von Rumon Gamba virtuos, farbenreich und kraftvoll interpretiert. Gipps’ Musik ist zwar traditionell, aber überhaupt nicht verstaubt: Emotionaler Tiefgang verbindet sich mit Freude an opulentem Orchesterklang, ausserdem mit einer hervorragenden Kenntnis aller Orchesterinstrumente, wobei besonders dem Konzertmeister, der Oboe, dem Englischhorn und dem Horn expressive Soli anvertraut werden. Der Widmungsträger der 4. Sinfonie von 1972, Sir Arthur Bliss, schrieb der Komponistin: «I have been studying the symphony, and the more I do the more I like it.» Dem kann man nur beipflichten.

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Knight in Armour op. 8 (1940)
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Sinfonie Nr. 2 op. 30 Moderato (1945)
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Tierisch leichte Stücke

Erstes Zusammenspiel im Streichorchester oder Streichensemlbe wird mit diesen Heften zum Vergnügen.

Ausschnitt aus dem Titelblatt von «Don’t Feed the Animals»

Die zwölf spassigen Ein-Minuten-Stücke von Don’t Feed the Animals, Ouverüre, zehn Tierbilder und Epilog für Kinderorchester, sind geeignet als Zwischenspiele für eine aufgeführte Geschichte. Der huschende Igel, der bei Fermaten scheu verharrt, das Schnarren des Frosches in sich reibenden kleinen Sekunden, emsige Achtel für die Ameisen, Triller und Tremolo-Glissandi für die fleissigen Bienen, der in wechselndem Dreiviertel- und Viervierteltakt einherschwebende Schwan, die vier in Pizzicatosprüngen und Sechzehntel-Tonleitern huschenden Eichhörnchen … Das ist alles raffiniert ausgedacht, gut auf die Stimmen verteilt und – mit einem gewissen Probeaufwand – leicht spielbar.

Die 14 Kanons und 6 Streichtrios, die Egon Sassmannshaus für den Frühen Anfang im Steicherensemble zusammengestellt hat, sorgen von einem b bis zwei Kreuzen für tonartliche Abwechslung. Sogar ein Menuett in a-Moll gesellt sich zu den kleinen Barocktänzen.

Im Weihnachtsheft derselben Reihe umrahmen 10barocke festliche Tänze in einfachen Tonarten – Dur und Moll – 17 der bekanntesten deutschen Weihnachtslieder in bewusst einfachem vierstimmigem Satz für jüngste Streichergruppen.

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George A. Speckert: Don’t Feed the Animals. 12 Stücke für Streichorchester, Partitur und Stimmensatz (1., 2. 3. Violine, letztere auch für Viola, Cello), BA 10648, € 13.95, Bärenreiter, Kassel

Egon Sassmannshaus: Früher Anfang im Streicherensemble, Spielpartitur für Violine, Viola (oder 2. Violine) und Cello, BA 10688, € 12.95, Bärenreiter, Kassel

id., Weihnachten, Spielpartitur für zwei Violinen (ein Stück drei Violinen), Viola (ein Stück zwei Violen) und Cello, BA 10689, € 12.95

Aus der Verschollenheit aufgetaucht

Das Concertino für Bassposaune und Orchester von Christian Gottlieb Müller bietet eine hochwertige Alternative zu Ernst Sachses Concertino.

Foto: Rich Smith / unsplash.com

Der Komponist Christian Gottlieb Müller (1800–1863) ist wohl vielen Musikern ziemlich unbekannt. Vielleicht mag die Tatsache, dass er Richard Wagners Lehrer war, ihm ein bisschen mehr Glanz verleihen. Und dies bestimmt nicht zu Unrecht: Die Partitur des 15-minütigen Bassposaunenkonzerts aus dem Jahre 1832 (schon damals gedruckt bei Breitkopf & Härtel) zeugt von gutem Handwerk, das sich Müller durch das intensive Studium der Werke Beethovens angeeignet hatte. Die Orchesterbesetzung (2-faches Holz, 2 Hrn, 2 Trp, Timp, Streicher), die Tonart (Es-Dur), der kadenzartige Beginn des Soloinstrumentes, die Virtuosität im 3. Satz und viele weitere Merkmale (z. B. Melodieführung in Oktaven zwischen Flöte und Klarinette im 2. Satz) erinnern an das rund 20 Jahre früher entstandene 5. Klavierkonzert seines Idols Ludwig van Beethoven.

Das Concertino galt lange Zeit als verschollen, insbesondere die Orchesterfassung. Nur ein ziemlich fehlerhafter, handschriftlicher Klavierauszug aus den 1950er-Jahren hielt die Erinnerung an das Werk wach. Erst im Jahre 2004 tauchte überraschend ein vollständiger Orchesterstimmensatz auf, welcher die Grundlage für die vorliegende Partitur bildet. Die Einzelstimmen sind als Mietmaterial erhältlich, die Partitur und ein ordentlicher Klavierauszug sind käuflich. Eine wahrlich erfreuliche Alternative zu Ernst Sachses Bassposaunen-Concertino – nicht zuletzt auch für Orchesterprobespiele.

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Christian Gottlieb Müller: Concertino für Bassposaune und Orchester Es-Dur, hg. von Nick Pfefferkorn, Partitur PB 33001, € 36.00, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2012/2018

Auf der Basis des Autografs

Eine Ausgabe von Dvořáks Streicherserenade mit Passagen, die im Autograf zu finden sind, in bisherigen Ausgaben aber fehlten.

Foto: Dayne Topkin / unsplash.com

Wenn ein Werk des Repertoires in einer neuen, zumal als «Urtext» bezeichneten Ausgabe erscheint, gibt es in (nur gefühlten) 95 Prozent aller Fälle zwei Möglichkeiten: Entweder müssen die editorischen Entscheidungen gegenüber vorhergehenden Ausgaben mit der Lupe gesucht werden (dann stehen meist markttechnische Überlegungen hinter der Ausgabe – und ja: es gibt ein Musik.biz, und das ist fraglos auch gut so), oder es gibt tatsächlich etwas Neues, mitunter auch Spektakuläres zu entdecken. Das mag nur eine Note oder ein Vorzeichen betreffen (von Beethoven bis Berg), manchmal sind es aber doch auch ganze Passagen, die einst in der Eile der Herstellung oder im Strudel der Überlieferung verloren gingen.

Insofern macht auch die vorliegende Neuausgabe von Dvořáks Streicherserenade neugierig: Neben den üblichen kleinen Korrekturen und Ergänzungen wartet sie nämlich mit neuen Takten auf: Im Scherzo sind es 34, im Finale gar 79. Sie finden sich im Autograf, wurden aber 1879 in der gedruckten Partitur bei Bote & Bock nicht berücksichtigt. Freilich, sie fanden bereits 1955 im Band der Gesamtausgabe Eingang (allerdings im Anhang, und somit gingen sie abermals bei IMSLP verloren, ein sich wiederholender gravis defectus). Robin Tait hat aus dieser Not eine Tugend gemacht und für die Neuausgabe das Autograf als Hauptquelle erkoren, somit auch die beim Druck unter den Tisch gefallenen Passagen in den Haupttext integriert (und sie doch als Konzession an die heutige Praxis mit einem Vide-Vermerk versehen). So darf nun frei erkundet werden, obwohl Dvořák selbst als anerkannter Meister später nie eine neue Auflage verlangte. Ich habe mich der Einspielung mit dem Orchestre d’Auvergne unter Roberto Forés Veses bedient – und ja, das damalige Lektorat hat vielleicht (?!) eine gute Entscheidung getroffen. Doch die Diskussion ist eröffnet.

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Antonín Dvořák: Serenade E-Dur op. 22 für Streichorchester, hg. von Robin Tait, Partitur, BA 10423, € 22.95, Bärenreiter, Prag 

Spielpraxis und Schulmusikwissen

Der «Leitfaden Bläserklasse» aus dem Helbling-Verlag verbindet das Erlernen eines Instruments mit schulischen Inhalten. Es geht von wöchentlich drei Lektionen aus.

Foto: Bruno Pego / unsplash.com

Das Lehrerhandbuch zum neuen Lehrmittel aus dem Verlag Helbling Leitfaden Bläserklasse kommt mit dem gewichtigen Umfang von mehr als 450 dicht bedruckten Seiten daher. Das Lehrwerk beeindruckt mit einer Fülle äusserst vielfältig und anregend aufbereiteten Materials. Zum Umfang gehören nebst dem Lehrerband Schülerhefte für alle Instrumente des Blasorchesters, Play-alongs und Online-Übehilfen, welche durch einen Code abgerufen werden können, sowie eine CD-ROM mit reichem Zusatzmaterial.

Der Leitfaden Bläserklasse wurde von fünf Autoren gemeinsam entwickelt, die alle Musik auf Gymnasialstufe unterrichten und sowohl über Erfahrung in der Arbeit mit Bläserklassen als auch in der Schulmusik verfügen. Ziel des neuen Lehrmittels ist die Verbindung der in der Bläserklasse heute dominierenden Spielpraxis mit den Inhalten des schulischen Musikunterrichts (Musiktheorie, Gehörbildung, Musik gestalten und erfinden). Das Lehrmittel richtet sich nicht an eine bestimmte Altersgruppe. Es eignet sich wohl für den Einsatz ab der Mittelstufe. Im Lehrerband werden ausführlich das Konzept, die zugrunde liegenden Vorstellungen und Ziele sowie die Methoden in der Arbeit mit den Klassen erläutert.

Der Unterrichtsteil beginnt mit einem Vorkurs, welcher noch ohne Instrumente stattfindet und sich über 3 Einheiten, d. h. ca. 6 Lektionen erstreckt. Anschliessend folgen Basics mit instrumentalmethodischen Grundlagen und dann die Lektionen mit dem Instrument, welche auf zwei Bände mit 23 bzw. 18 Lektionen (1./2. Band) aufgeteilt sind. Jede Lektion bietet Material und vollständig vorbereitete Stundenbilder für 2 Schulstunden.

Das vorliegende Konzept geht von wöchentlich 3 Lektionen erweitertem Musikunterricht, aufgeteilt in 2 Lektionen regulären Musikunterricht mit der ganzen Klasse und 1 Lektion Instrumentalunterricht in Kleingruppen, aus. Wenn weniger Unterrichtszeit zur Verfügung steht, dürfte es schwierig sein, die beiden Bände innerhalb von 2 Schuljahren zu erarbeiten.

Inhaltlich legt das Lehrmittel sehr viel Gewicht auf die Vermittlung von Musiktheorie. Die Grundlagen werden gründlich, aber auch äusserst vielfältig und spielerisch, mit vielen Anregungen für Partner- oder Gruppenarbeiten eingeführt. Gleichzeitig werden die Theorie-Inhalte mit dem praktischen Spiel auf dem Instrument verknüpft und für Kreativaufgaben genutzt. Stets werden die Schülerinnen und Schüler zum praktischen Tun aufgefordert. Pro Lektion (Kapitel) gibt es im Schnitt ein bis zwei in der Regel kurze Musikstücke, was doch eher wenig ist. Meist werden zu den Stücken zusätzliche Anregungen zu Interpretation, Präsentation oder Reflexion sowie Verknüpfungen zur Theorie geboten. Zu vielen Stücken sind auf der beiliegenden CD-ROM zusätzliche vierstimmige Klassen-Arrangements mit einer 2. Stimme, einer Bassstimme und einer Oberstimme «für Geübte» vorhanden, was eine Individualisierung der Anforderungen durch Binnendifferenzierung ermöglicht.

Anhand von speziell gekennzeichneten Werkzeugkästen werden den Schülern spezifische Methoden als Handwerk vermittelt, wie sie selbstständig Musik erarbeiten, Stücke üben oder sich musikalisches Material aneignen können. Die Schülerhefte sind mit Farben und Symbolen ansprechend gestaltet und enthalten unterstützende und anregende Bilder und Grafiken. Allerdings wirken die Seiten insgesamt eher überladen und sehr textlastig, was die Zugänglichkeit etwas erschwert.

Leitfaden Bläserklasse setzt in Sachen thematischer Breite, der Vermittlung von Theorie und allgemeinem Musikverständnis sowie in deren methodisch-didaktischer Aufbereitung neue Massstäbe.

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Sommer/Ernst/Holzinger/Jandl/Scheider: Leitfaden Bläserklasse. Ein Konzept für das erfolgreiche Unterrichten mit Blasinstrumenten, Lehrerband 1 und 2 incl. CD-ROM und Schüler-Lösungshefte, S7770, Fr. 84.50, Helbling, Belp u.a.

Bislang unbekanntes Sonatenfragment

Die Komposition seiner Sonate für Violoncello und Klavier fiel Camille Saint-Saëns schwer. Und die Überlieferung hat es auch nicht gut mit ihr gemeint.

Jean-Joseph Benjamin-Constant: Porträt des Camille Saint-Saëns 1898. Bildquelle: Musée de la Musique, Paris, Inventarnummer E.995.6.27 / wikimedia commons

Die Cello-Literatur enthält mehrere unvollständige Werke bedeutender Komponisten: Mozarts einziges Werk für Violoncello und Klavier, das Andantino cantabile KV 374 g (Anh. 46), blieb Fragment und existiert in mehreren fremden Ergänzungen, von Antonín Dvořáks frühem Cellokonzert in A-Dur sind lediglich die Solostimme und der Klavierauszug überliefert und Othmar Schoeck hinterliess den letzten Satz seiner Cello-Sonate unvollendet.

Diese (unvollständige) Liste kann nun um eine bedeutende Entdeckung erweitert werden: Als Teil der Bärenreiter-Gesamtausgabe von Camille Saint-Saëns’ Werken ist eine bisher unbekannte Cellosonate erstmals veröffentlicht worden. Ein Brief des Komponisten aus dem Jahre 1919 belegt, dass das Werk zu Lebzeiten des Komponisten vollständig aufgeführt worden ist. Trotzdem sind von den angeblich vier komponierten Sätzen lediglich die ersten zwei erhalten, wobei das überlieferte Manuskript des 2. Satzes nach 82 Takten abbricht.

Die Konzeption der Sonate reicht ins Jahr 1913 zurück und Saint-Saëns scheint sich mit der definitiven Niederschrift schwergetan zu haben, wie er 1914 in einem Brief an seinen Verleger Durand schrieb: «Ich arbeite an meinem Duo, das nur mühsam vorangeht. Welch schwer zu behandelndes Genre!»

Wie in den beiden Sonaten op. 32 und op. 123 spielt Saint-Saëns gekonnt mit rhythmisch prägnanten und lyrischen Passagen. Kühne harmonische Wechsel erinnern zudem an die Tonsprache des 1919 entstanden Prière op. 158 für Violoncello und Orgel.

Saint-Saëns’ Cello-Œuvre erfährt durch diese Erstausgabe eine erfreuliche Erweiterung.

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Camille Saint-Saëns: Sonate für Violoncello und Klavier D-Dur (unvollständig), Erstausgabe, hg. von Denis Herlin, BA 10910, € 17.95, Bärenreiter, Kassel

Einmal ausladend, einmal knapper

Diese Ausgabe bietet die berühmte Klaviersonate Nr. 2 von Sergej Rachmaninow in beiden vom Komponisten erstellten Ausgaben.

Rachmaninow-Denkmal in Tambow. Foto: Stadtverwaltung Tambow/Russland, wikimedia commons

Rachmaninows 2. Klaviersonate op. 36 gehört heute zu den am häufigsten gespielten Werken des russischen Komponisten. Gerade die junge Generation und vor allem auch jene aus Fernost studiert das anspruchsvolle, hochvirtuose Stück mit Leidenschaft und Hingabe.

Das war nicht immer so. Vor allem im deutschsprachigen Kulturraum hatte diese Sonate in der Vergangenheit gegen einen schlechten Leumund zu kämpfen. In seinem Handbuch der Klavierliteratur stellte Klaus Wolters seinerzeit lapidar fest, dass Opus 36 allgemein fast nur negative Kritiken erhalten habe. Und in einer späteren Auflage (1977) erwähnt er sie schon gar nicht mehr. Walter Georgii stört sich an den «einförmigen Motivwiederholungen». Das umfangreiche Werk sei deshalb «im Ganzen wenig erfreulich» (Klaviermusik, Atlantis Verlag).

Rachmaninow selber war mit der ursprünglichen Konzeption seiner 2. Sonate von 1913 offenbar auch nicht zufrieden und unterzog sie 18 Jahre später einer gründlichen Revision. Er gestaltete den Klaviersatz etwas transparenter und strich insgesamt rund 120 Takte. Das sind immerhin mehr als 10 Seiten Musik!

Ob er dadurch das Werk zu seinem Vorteil verändert hat, wird immer wieder diskutiert. Vladimir Horowitz löste das Problem auf seine Weise und erstellte mit Rachmaninows Einwilligung eine eigene Mischfassung aus beiden Versionen.

Dominik Rahmer hat nun im Henle-Verlag beide Fassungen des Komponisten in einem Band veröffentlicht, und man kann somit bequem Takt für Takt die Unterschiede studieren. Das Notenbild ist – wie üblich bei Henle – selbst in der überladenen Erstfassung übersichtlich und gut lesbar. Die Fingersätze verraten den gewieften Praktiker und stammen von Marc-André Hamelin, der ja nicht nur dieses Repertoire bestens kennt.

Man mag zu Rachmaninows Opus 36 stehen, wie man will. Ähnlich wie im genialen 3. Klavierkonzert kann man auch hier die konsequente motivische Arbeit des Komponisten bewundern. Alle Formteile sind aus ganz wenigen musikalischen Bausteinen entwickelt und kunstvoll-logisch miteinander verknüpft. Einmal in einem etwas enger geschnittenen Kleid (Version von 1931), ein andermal in einer etwas ausufernden, aber vielleicht sinnlicheren Fassung (1913).

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Sergej Rachmaninow: Klaviersonate Nr. 2 b-Moll op. 36, Fassungen 1913 und 1931, hg. von Dominik Rahmer, HN 1256, € 19.50, G. Henle, München

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