Den Kompass neu einstellen?

Wo geht es lang? In der Musik, aber nicht nur dort. Wer gibt die Richtung vor? Das Musikfestival Bern widmet sich vom4. bis 8. September dem Thema «Kompass».

George E. Lewis – Composer in Residence. Foto: Maurice Weiss

Ein Kompass ist ein nützliches Ding, auch wenn es längst durch neuere Technologien ersetzt scheint. Er gibt uns doch eine klare Disposition der Welt mit. Wir wissen dann, wo Norden ist. Wir können uns orientieren. Aber reicht das heute noch aus, da die diversesten Richtungen und Ausrichtungen nebeneinander erscheinen? Wir müssen über den Kompass wieder nachdenken, müssen ihm nachspüren, wie er ausschlägt. Manchmal ist das ein leichtes Vibrieren, manchmal aber ein Hufschlag …

Orientierung und Neuorientierung

Deshalb hat das Musikfestival Bern der Musikszene von Stadt und Kanton den «Kompass» als Thema vorgeschlagen. Diese hat mit vielfältigen Ideen reagiert, aus denen das Kuratorium wiederum einige auswählte und ausarbeiten liess. So führt eine Veranstaltung mit Ludmilla Mercier und Ulysse Loup zu den kalbenden Gletschern Grönlands, eine andere mit Werner Hasler und Stefan Schultze in die Welt der Tiere, die sich bei ihren Zügen und Flügen ebenfalls nach einem inneren Kompass orientieren. Wie synchron koordinieren sich zum Beispiel drei Turntable-Spielerinnen und -Spieler (unter ihnen Marcel Zaes), die an unterschiedlichen Orten der Welt spielen? Ist ihre Ungenauigkeit nicht gerade das Interessante daran? Was imaginiert ein iranischer Musiker (Ali Latif-Shushtari) zu den Mikrogrammen des wandernden Robert Walser, wohin führen sie ihn? Und was bedeutet uns heute noch Arnold Schönbergs aufrüttelndes Zeitdokument A Survivor from Warsaw? Die Berliner Opernkompanie Novoflot und der aus Thun stammende Komponist Michael Wertmüller haben sich das Stück vorgenommen und beleuchten es neu.

In solchen Projekten zeigt sich, wie unterschiedlich die Musikerinnen und Musiker von heute agieren. Aber wurde nicht immer schon die Orientierung in der musikalischen Welt aufs Neue überdacht? So wurden einzelne Komponierende zu Kompassen, in ihrer Zeit und darüber hinaus, indem sie einfach Fragen stellten und manchmal auch Antworten versuchten. Schönberg zum Beispiel sah sich gewiss in einer solchen Position. Mit der Atonalität und vor allem der Zwölftontechnik glaubte er der Musikgeschichte eine Richtung zu weisen. Tat er auch, wenn auch längst nicht mehr unwidersprochen. Es ist immer noch der Mühe wert, sich mit ihm zu beschäftigen. In der dreiteiligen Konzertreihe Extremromantik stellt das Klavierduo Susanne Huber / André Thomet zwei seiner frühen atonalen Werke in den Fokus und fügt als Gegensatz vierteltönige Musik des Jahrgangsgenossen Charles Ives hinzu. Dieser tritt ab Band auch im zweiten Teil der Reihe auf, wozu Jacques Demierre aktuelle Kommentare beisteuert. Und als dritte Kompassfigur erscheint Franz Liszt, der wahre Zukunftsmusiker des 19. Jahrhunderts, mit dem die Elektronikerin Olga Kokcharova in einen grenzensprengenden Dialog tritt.

Richtungen und Schranken

Grenzen stehen oft dem Weg entgegen, den ein Kompass anzeigt. Und deshalb fragt das Ensemble Proton Bern zusammenmit vier Komponistinnen und Komponisten und dem Vokalensemble Cantando Admont nach den Grenzen unseres Landes, seiner Offenheit und Abgeschirmtheit. Welchem inneren Kompass folgen etwa Geflüchtete auf ihrer schwierigen Reise durch unser Land? Welche Schranken müssen sie überwinden? Das internationale Vokalquartett Operadicals (mit Franziska Baumann) und der Berner Chor suppléments musicaux wiederum suchen nach der Terra incognita der menschlichen Stimme. Und Mauricio Kagel, der aus Argentinien stammende und in Köln heimische Komponist, betrachtete in seinen Stücken der Windrose die Welt aus ungewohntem Blickwinkel. Der Süden, den wir mit Hitze verbinden, steht für ihn für patagonische Kälte. So geraten Ordnungen ins Strudeln.

Composer in Residence: George E. Lewis

Grenzüberschreitung und Neuorientierung sind aber vor allem auch für den Musiker zentral, der als Composer in Residence nach Bern kommt: George E. Lewis. Der Posaunist aus dem Jazzavantgardezirkel der AACM (Association for the Advancement of Creative Musicians) gehört längst zu den wichtigen Figuren der US-Musik. In seiner Musik verbinden sich Improvisation und Komposition, computergesteuerte Installationen und interaktive Konzertformen mit einer tiefgreifenden Reflexion über die Bedingungen heutigen musikalischen Schaffens. Er wird über Dekolonisation sprechen; sein Computerorchester interagiert mit der Pianistin Magda Mayas in Voyager; und er schreibt ein neues Stück für die wandlungsfähige winddynamische Orgel im Berner Münster. Daniel Glaus spielt den Solopart und wird so zum «Teufel im Dom». Mit jeder Aufführung ändert sich die Sicht- und Hörweise. Selbst auf den Kompass der Partituren kann man sich nicht mehr völlig verlassen. Vielleicht jedoch ist gerade das befreiend …

 

Bern, 4. bis 8. September 2024

musikfestivalbern.ch

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