Stets im persönlichen Gespräch mit der Unendlichkeit

Die Ärztin Stefania Longoni Bortoluzzi hat neben ihrem Beruf für die Musik gelebt. Ihre umfangreiche Musiksammlung ist nun Teil der Bibliothek der Fondazione Conservatorio della Svizzera italiana. Ein Porträt der vor rund einem Jahr verstorbenen Musikgönnerin.

Die Bibliothek in Velate. Foto: zVg

Es wird oft gesagt, dass die Zusammenstellung einer Bibliothek oder einer Musiksammlung das tiefste Wesen einer Person widerspiegle, ihre intimsten Wünsche, Neugierden und manchmal auch Hoffnungen. Hunderte von Büchern oder Aufnahmen zusammenzutragen setzt zunächst eine vielseitige Bildung voraus, möglicherweise herausgewachsen aus einer in jungen Jahren verwurzelten Leidenschaft, mit zunehmendem Alter kultiviert und vielleicht «durch Ansteckung» von Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten übertragen. Unsere Lektüre und unsere Musikvorlieben repräsentieren das Eintauchen in eine Welt, in der wir gerne leben würden, einen Zufluchtsort des Geistes und oft auch des Körpers, denn das Hören von Musik oder ein angenehmes Buch können heilsame und glücklich machende Endorphine freisetzen.

Einladung zum Schönen

So konnten wir, als wir das grosse Haus von Emilio und Stefania Bortoluzzi in Velate (Italien) betreten durften, über seine grossen Bücherschränke und Regale voller CDs und DVDs sofort die Essenz ihrer Charaktere erfassen. Eine Einladung zum Schönen und der Beweis, dass Wissenschaft und Humanismus perfekt miteinander vereinbar sind und sich gegenseitig unterstützen können, denn beide Ehepartner waren Ärzte, suchten aber kontinuierlich nach ihrer tiefsten Bestimmung, die durch ausgiebiges Lesen und Musikgenuss inspiriert wurde. Wenn Emilio aus den Büchern neue Energie für sein poetisches Schreiben gewann, sich in sein Arbeitszimmer zurückzog, um Reime zu finden und Gefühle und Erinnerungen zum Ausdruck zu bringen, setzte Stefania im grossen, mit Fresken verzierten Wohnzimmer eine LP der Deutschen Grammophon auf und verfolgte im Sessel die Stationen ihres Lebens mit der Musik als stetiger Begleiterin. Sie hatte Kunstmusik bereits mit der Luft des Mailänder Hauses eingeatmet, in dem sie geboren worden war, mit ihrer Mutter Alice Claius, einer Sängerin aus Leipzig, einer ausgezeichneten Liedinterpretin und Pianistin, in den dort erlebten Hausmusikabenden, die später auch in Velate Brauch wurden, mit dem unschätzbaren Vergnügen, die liebsten Freunde um sich zu haben. 

Leidenschaft für legendäre Aufnahmen

Versuchen wir Stefania Longoni Bortoluzzi durch «Ermittlungen» in ihrer Musiksammlung näherzukommen. Diese verweist auf einige Grundpfeiler der Persönlichkeit der Ärztin, die 34 Jahre lang als Anästhesistin am Circolo-Krankenhaus in Varese arbeitete, wo ihr Mann Leiter der Intensivstation war: legendäre Aufnahmen mit möglicherweise nicht «historisch informierten» Interpreten, wie man heute diejenigen bezeichnet, die alte Musik aufführen, die dafür aber aussergewöhnliches Charisma und künstlerische Strenge aufwiesen.

Da sind Karl Richter mit den Bach-Passionen, die gesamte Tastenmusik des Kantors, interpretiert von Angela Hewitt, über die wir später sprechen werden, der Beethoven der Sinfonien und Konzerte, der Mozart für Klavier und Oper, die berühmtesten Aufnahmen Karajans. Vor allem aber finden wir eine grosse Sammlung von Liedern – die tiefste Leidenschaft Stefanias. Sie beherrschte das Deutsche perfekt, kannte die Texte der Lieder von Schubert, Schumann, Mendelssohn, Brahms, Wolf, Strauss auswendig und genoss die Werke von Richard Wagner in der Originalsprache. Die Romantiker, genau, und wir fügen auch Chopin hinzu, natürlich gespielt von Rubinstein, obwohl als Interpret auf einigen Aufnahmen auch Maurizio Pollini auftauchte, oder Arturo Benedetti Michelangeli, oder der grossartige und viel zu früh verstorbene Dino Ciani.

Diese spezielle Vorliebe könnte wie ein Widerspruch erscheinen, denn Stefania Longoni war eine pragmatische Person, ohne viel Firlefanz, sehr direkt, und doch lässt ihr Musikgeschmack etwas ganz anderes vermuten, nämlich einen zutiefst romantischen Geist. Vielleicht ist dies das Ergebnis der Mailänder Jahre, in denen die junge Frau bei ihrer Mutter Klavier studierte und in den Gedichten deutscher Dichter wie Uhland, Klopstock, Müller, Brentano und natürlich Goethe Schätze entdeckte. Ihr Geheimnis blieb in den Titeln der Platten bewahrt, von denen sie sich an jede einzelne erinnerte, deren Interpreten sie nennen und ein Urteil über ihre Leistung abgeben konnte. Doch am liebsten hörte sie immer ganz bestimmte Autoren, die als wahrhaftige «Mantras» innerlich rezitiert wurden, bevor sie die Platten auflegte.

Mit der Sensibilität einer Musikerin

Als Kind hörte Stefania ihre Mutter deren Liedrepertoire singen, und sie pflegte das Klavierspiel bis zum achten Lebensjahr, fühlte sich jedoch nicht geeignet, eine Konzertkarriere zu beginnen. Die Musik aber war immer in ihr, und sie blieb lebendig durch das Hören und Kennenlernen grosser Interpreten, denen sie in die Konzertsäle von halb Europa folgte. Die Ärztin, die dreissigtausend Patienten einschlafen liess, während sie ihnen bei der Anästhesie die Hand hielt, stellte ihre Musiksammlung mit äusserster Sorgfalt und Sachkenntnis zusammen und erinnerte sich an die vielen Live-Konzerte, die sie besucht hatte: Benedetti Michelangeli an der Scala, Herbert von Karajan in Salzburg, Bernhard Haitink im Concertgebouw in Amsterdam und dann Bernstein, Pollini, Sokolov, Fischer-Dieskau, Harnoncourt, Herreweghe – all die Namen standen in den Regalen wie Freunde, die sie «anrufen» konnte, wenn ein dringendes akustisches Bedürfnis bestand.

Als Kind hatte sie das Glück, Victor De Sabata zu treffen, der einmal Gast im Elternhaus war. Sie spielte ihm etwas am Klavier vor und erhielt Komplimente, dann hörte sie ihn an der Scala Tristan und Isolde dirigieren, und es war eine unvergessliche Erfahrung. Aber ihr Idol unter den Dirigenten war Karajan, über den sie Artikel und Biografien las und von dem sie ganze Boxen mit Beethoven- und Brahms-Aufnahmen sammelte, aber auch von Opern, die eine Ära prägten, so wie die legendäre Bohème mit Mirella Freni und Luciano Pavarotti in ihrer stimmlichen Blütezeit. Sie liebte es, die grossartige Videoaufzeichnung von Beethovens Neunter mit den Berliner Philharmonikern immer wieder anzuschauen, und wiederholte, dass niemand anderer in der Lage wäre, sie so zu spielen. Sie hörte mit dem Ohr und der Sensibilität einer Musikerin, nicht einer Amateurin, sie erfasste jede Nuance der Partitur und hatte Spass daran, verschiedene Interpretationen desselben Stücks zu vergleichen.

Der Weg nach innen

Ihre Leidenschaft für die Musik war ansteckend, so sehr, dass sie auch ihren Mann Emilio, der gerne Jazz hörte, dazu brachte, sich für klassische Musik zu begeistern und mit ihr Konzerte zu besuchen. Bei dem Dino Ciani gewidmeten Klavierwettbewerb hatte Stefania Longoni eine ihrer wichtigsten Begegnungen in der Musikwelt – mit der kanadischen Pianistin Angela Hewitt, damals unbekannt und sehr jung, die später wie eine Tochter für sie wurde. Angela kam vor allem im Frühling und Herbst, wenn sie in Italien auf Tournee war, in die Casa Bortoluzzi und übte im Klaviersaal. Stefania begleitete sie jedes Jahr zum Festival am Lago Trasimeno, das die Künstlerin organisierte, und fehlte bis 2018 bei keiner Ausgabe. In ihrer Musiksammlung befand sich die vollständige Kollektion der Aufnahmen von Angela Hewitt, die massgeblich dazu beitrug, die Leidenschaft der Ärztin für Johann Sebastian Bach zu erneuern, denn die kanadische Künstlerin gehört zu dessen bedeutendsten lebenden Interpreten. Stefania Longoni liebte das Reisen, und es verging keine Reise, bei der sie nicht die Gelegenheit wahrnahm, ein Live-Konzert zu hören, egal ob in Stresa, Amsterdam, Salzburg oder Berlin, in der Mailänder Scala oder im Metropolitan in New York war. Mit zunehmendem Alter wählte sie gezielter aus und näherte sich introspektiveren Komponisten und Werken an: Bach, dem späten Beethoven, Brahms, den späten Schubert-Sonaten, einigen Liedern von Schumann, aber auch Opern, die sie vielleicht in jungen Jahren weniger häufig gehört hatte.

Die Musikgönnerin

Stefania und Emilio Bortoluzzi waren Mäzene der Musik und unterstützten von Anfang an die städtische Musiksaison von Varese, die von Fabio Sartorelli, Musikwissenschaftler und Dozent am Konservatorium «Giuseppe Verdi» in Mailand, geleitet wurde. Stefania spendete unter anderem eine Beleuchtungsanlage für die Konzerte, kaufte jedes Jahr verschiedene Abonnements, die sie dann den Menschen schenkte, die ihr wichtig waren, und lud verschiedene Musiker in das grosse Haus in Velate ein, um zu proben, darunter Leonidas Kavakos und den Pianisten Enrico Pace, die Geigerin Vilde Frang und die damals auf der internationalen Bühne noch unbekannte junge Beatrice Rana.

Nun ist die Musiksammlung, die Stefania Longoni liebevoll über viele Jahre zusammengestellt hat, ein Teil der Bibliothek der Fondazione Conservatorio della Svizzera Italiana, um denen nützlich zu sein, die jeden Tag mit Musik zu tun haben. Und wenn man sich die Titelliste ansieht, offenbart sich mit Nachdruck die Seele der Frau, die ihre Spur in dieser Sammlung hinterlassen hat, wie im grossen Saal der Villa in Velate, wo die Wissenschaft jeweils einem intimen und persönlichen Gespräch mit der Unendlichkeit Platz machte.

 

Mario Chiodetti ist Journalist, Schauspieler und Schriftsteller. Er lebt in Varese (I).

Das könnte Sie auch interessieren