Fit für die Zukunft? – Berliner Tagung zur Entwicklung von Musik(hoch)schulen

Fit für die Zukunft? Diese saloppe Frage stand über der Konferenz zum Thema «Entwicklung von Musik(hoch)schulen im 21. Jahrhundert aus künstlerischer und musikpädagogischer Perspektive» vom 3. und 4. Mai in Berlin. Studierende sorgten im Publikum und auf der Bühne für Dynamik. Kurz darauf ist die Studie «Mulem-ex» erschienen zu Hintergründen über das abnehmende Interesse an Studiengängen für das Lehramt Musik in Deutschland.

Gedankenfetzen von Tisch 8 zum Thema «Analog vs. digital?»

In Bewegung kommen, sich bunte Zukunftsräume ausmalen und wieder in die Gegenwart zurückkehren: Die «Aktionen» von Stefan Linne, Pantomime und Schauspieler in Berlin, schlugen den Bogen vom Beginn zum Schluss der Zusammenkunft. Der grosse Ansturm von Teilnehmenden aus allen Generationen hatte die Veranstaltenden positiv überrascht. Eingeladen waren Lehrende, Studierende sowie Leitende in Musikschulen, Musikhochschulen, Verbänden und Akademien, vorwiegend aus Deutschland. Studierendendelegationen aus allen musikpädagogischen Fakultäten Deutschlands erfrischten die vielen partizipativen Formate. Zum Auftakt lernte Jung und Alt unter Linnes Anleitung in kürzester Zeit ganz locker mit drei farbigen Tüchlein zu jonglieren. Diese Aktion versinnbildlichte einen zentralen Aspekt der Tagung, nämlich: wegzukommen von einer Schwarz-Weiss-Sicht in der professionellen Musikausbildung.

Endlich die Kluft zwischen künstlerischer und pädagogischer Ausrichtung überwinden zu können, war ein fühlbar dringliches Anliegen von Publikum und Vortragenden.

Das Fachmedium der Zukunft

Die Fakultät Musik der Universität der Künste Berlin organisierte die Tagung in Kooperation mit der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Mannheim. Federführend waren Ivo Berg, Barbara Busch, Christina Fassbender, Isabelle Heiss, Sebastian Herbst und Barbara Metzger. Die Strecker-Stiftung fungierte als Förderin. Sie besitzt seit Ende 2023 den Musikverlag Schott. Dieser wiederum gibt seit 40 Jahren die Zeitschrift üben&musizieren heraus. Seit ihrer Gründung spielt sie eine zentrale Rolle in der Reflexion verschiedenster Aspekte der Musikausbildung und der Entwicklung von Musik(hoch)schulen. Das Jubiläum wurde nicht nur mit «Sekt und Selters» gefeiert. Es gab vielmehr Anstoss zu einem Think-Tank zur Zukunft von Fachmedien. Redaktor Rüdiger Behschnitt und seine Kollegin Kerstin Weuthen sammelten mit dem Publikum in gut organisierten Brainstormings viele Ideen, wohin die Reise gehen könnte, sofern personelle und finanzielle Ressourcen keine Rolle spielen. Ein Königsweg kristallisierte sich dabei erwartungsgemäss nicht heraus, zu schnell und unvorhersehbar verändert sich derzeit die Medienlandschaft. Kurz, klar, korrekt, konkret, kostenlos, leicht zugänglich – so sollten Informationen vor allem aus Sicht der Studierenden sein.

Ideenreichtum an den Brainstormings zur Zukunft von Fachmedien

Acht Spannungsfelder

Die titelgebende Frage des Symposiums, das in den Räumen der Universität der Künste stattfand, wurde schon in der Ausschreibung anhand von acht Gegensatzpaaren aufgefächert. Sie bildeten das Gerüst der Veranstaltungen und wurden in einem «Worldcafé» explizit erörtert:

1. Elitär vs. partizipativ? Welche Menschen können vor dem Hintergrund welcher Leitgedanken wie an Musik(hoch)schulen welche Musik lernen?
2. Persönlichkeitsentwicklung vs. Berufsfeldorientierung? Soll sich die Entwicklung der Musik(hoch)schulen in erster Linie auf die Persönlichkeitsentfaltung der Studierenden oder auf das künftigen Berufsfeld ausrichten?
3. Tradition vs. Innovation? Liegt die Zukunft der Musik(hoch)schulen in der Wahrung oder in der Überwindung von Traditionen?
4. Einsam vs. gemeinsam? Machen sich Musik(hoch)schulen ohne umfassende (externe) Kooperationen überflüssig?
5. Kunst vs. Wissenschaft? Welche Rolle spielen Wissenschaft und Kunst für die Entwicklung von Musik(hoch)schulen?
6. Sinn vs. Unsinn? Inwiefern eignen sich Leitbilder für die Weiterentwicklung von Musik(hoch)schulen?
7. Nähe vs. Distanz? Welche Rolle spielen Nähe und Distanz im Unterricht an Musik(hoch)schulen?
8. Analog vs. digital? Welche Bedeutung haben analoge und digitale Kommunikations- und Ausdrucksformen sowohl im Rahmen der Lehre an Musik(hoch)schulen als auch bezogen auf musikalische Performance und Musikproduktion?

An acht Tische gedrängt loteten die Teilnehmenden jeweils während einer halben Stunde diese Spannungsfelder aus. Sie hatten vorab die Gelegenheit gehabt, sich für drei der sie am meisten beschäftigenden Fragen einzuschreiben. Insgesamt dauerte das «Worldcafé» anderthalb Stunden. Das Resultat war eindrücklich: viele Quadratmeter Papier voll farbig notierter Gedankenfetzen.

Intensive Diskussionen an den Tischen des «Worldcafés»

Die Fragen weiter bewegen

Die Vorträge von Barbara Stiller, Martina Krause-Benz, Ulrich Mahlert, Wolfgang Rüdiger und Tobias Seidel brachten weitere Facetten in die Diskussion und regten individuelle Pausengespräche an. Die Teilnehmenden konnten ihre spezifischen Anliegen in sieben Workshops vertiefen. Studierende und Alumni der Universität der Künste Berlin bauten mit ihren Perfomances immer wieder Brücken zwischen intellektueller Reflexion und künstlerischer Darstellung.

Eindeutige Antworten auf die vielen Fragen gab es keine, vielleicht die Einsicht, dass das Gespräch zwischen den verschiedenen Akteuren mit grösstmöglicher Offenheit weitergeführt werden muss. Stefan Linne und Studierende führten die Teilnehmenden zum Schluss wieder zu sich selbst und den eigenen Vorstellungen einer zukunftsfähigen Musik(hoch)schule zurück.

Auf der Website von üben&musizieren (uebenundmusizieren.de) werden demnächst Unterlagen zu einigen Veranstaltungen der Konferenz «Fit für die Zukunft?» hochgeladen. Später wird zudem eine gedruckte Publikation erscheinen.

 Länderübergreifendes Sorgenkind Schulmusik

Einen Monat nach der Berliner Tagung ist die Untersuchung Mulem-ex – Musiklehrkräftebildung – eine explorative Studie veröffentlicht worden. Ziel war, herauszufinden, warum sich junge Menschen in Deutschland gegen ein Studium des Lehramts Musik entscheiden. Im Bereich Schulmusik fehlen dort Tausende ausgebildete Lehrkräfte und die Zahl der in entsprechenden Studiengängen Neuimmatrikulierten ist stark rückläufig. Verkürzt und vereinfacht dargestellt nennt die Studie folgende Gründe für die Entwicklung eines negativen Berufsbildes: Musikaffine nehmen die auf die europäisch-klassische Kunstmusik ausgerichtete Eignungsprüfung als hohe Hürde wahr; viele Befragte fühlen sich zu wenig auf den Berufsalltag vorbereitet, sehen wenig Entfaltungsmöglichkeiten; zahlreiche potenzielle Studierende fürchten im Berufsalltag die hohe Arbeitsbelastung wegen zeitaufwendiger Vorbereitung des Unterrichts und gleichzeitig fehlende Möglichkeit für musikalisch-künstlerische Tätigkeit.

Die Ausbildungssituation in Deutschland ist bedingt mit derjenigen in der Schweiz zu vergleichen. Wer hierzulande an der allgemeinbildenden Schule Musik unterrichten möchte, braucht ein Diplom einer Pädagogischen Hochschule (PH) oder einen Abschluss in Schulmusik I bzw. für Gymnasien Schulmusik II (Musikhochschulen). Allerdings fehlen aussagekräftige Zahlen zum Beispiel über die Abwahl resp. Nichtwahl bestimmter Fächer oder Studiengängen an den PHs oder zum Verbleib von Absolventinnen und Absolventen an PHs und MHs. Zudem sind die Anstellungskontexte für Musiklehrpersonen der darunter liegenden Schulstufe, im Bereich Musik & Bewegung, sehr heterogen. Rückfragen bei der Kammer Pädagogische Hochschulen bei Swissuniversities und der Konferenz Musikhochschulen Schweiz (KMHS) haben ergeben, dass in der Schweiz dazu bislang keine fundierten Daten vorliegen. Die KMHS würde allerdings eine umfassende Erhebung begrüssen.

Link zu Mulem-ex – Musiklehrkräftebildung – eine explorative Studie

Chance für guten Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen? Die Uhr in der Berliner U-Bahn-Station war am 4. Mai 2024 tatsächlich kurz vor zwölf stehengeblieben.

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